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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865.

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liegt eben im höheren ethischen Wesen des Amtes. Die völlige Ent-
lastung von derselben würde in der That das Amt wieder auf den
Standpunkt eines bloßen Auftrages zurückwerfen. Ohne die Anerken-
nung der standesmäßigen Selbständigkeit des amtlichen Lebensberufes
und seiner ethischen Consequenzen, die eben in der theilweisen Ueber-
nahme der Verantwortlichkeit erscheinen, wird man hier nie zu einem
rechten Abschlusse gelangen.

Die Amtspflicht enthält nun noch eine dritte Verpflichtung, welche
aber im Allgemeinen schwer oder gar nicht zu definiren ist, während sie
in jedem einzelnen Falle sehr deutlich erscheint. Sie besteht darin, sich
das Verständniß der Gesetze und Verordnungen zu erwerben, und
zwar in dem Sinne, daß der einzelne Beamtete in den einzelnen Funk-
tionen auch dann, wenn sie nicht ausdrücklich vorgeschrieben sind, den
Geist der Vorschrift mit den gegebenen Verhältnissen in Harmonie zu
bringen verstehe. Man nennt diese Fähigkeit in ihrem Erscheinen als
persönliches Verhalten die Conduite, als Beurtheilung der Verhält-
nisse und der richtigen Maßregeln den Takt. Beide sind natürlich für
eine gute Verwaltung von hoher Wichtigkeit; aber man kann sie nur
mittelbar hervorrufen. Die beiden Wege sind einerseits die möglichste
Oeffentlichkeit der Funktionen der Verwaltung, und die geheimen
Conduitenlisten. Die letzteren entstehen da, wo die erstere fehlt,
und entwickeln sich in dem Grade, in welchem die persönliche Verant-
wortlichkeit des Ministers die Form und berufsmäßige Verantwortlich-
keit des einzelnen Beamteten absorbirt. Es leuchtet ein, daß dieselben
um so nachtheiliger wirken müssen, je weniger es zu vermeiden ist, daß
ihre Angaben neben den Thatsachen auch ein individuelles Urtheil ent-
halten, und daß über sie der Betreffende nicht gehört werden könne.
Sie verschwinden daher von selbst mit der Oeffentlichkeit. Damit ist
natürlich ein amtliches Urtheil über die Amtsführung durchaus nicht
ausgeschlossen.

Der amtliche Gehorsam hat seine Geschichte, und jedenfalls bildet er ein
wesentliches Moment in der Geschichte der Staatsbildung. Die Gränze zwischen
ihm und dem absoluten Gehorsam beginnt bei dem Kampf zwischen der einheit-
lichen Staatsidee und dem ständischen Rechte der Verwaltung, und empfängt
ihren ersten ethischen Inhalt durch die Anwendung der amtlichen Gewalt auf
kirchliche Fragen, ihren theoretischen durch die Anwendung der Vertragstheorie
auf die Entwicklung des Staatsrechts und die Idee der königlichen Gewalt.
Die Formel: "daß man Gott mehr gehorchen solle, als den Menschen," be-
zeichnet den Punkt, wo der kirchliche und der staatliche Gehorsam auch im Amt sich
berühren. Mit dem Siege der staatlichen Einheit verschwindet jene Gränze;
das 18. Jahrhundert, namentlich auf dem Continent, zum Theil aber auch in
England (Walpole), ist die Epoche des unbedingten Gehorfams gegen das

liegt eben im höheren ethiſchen Weſen des Amtes. Die völlige Ent-
laſtung von derſelben würde in der That das Amt wieder auf den
Standpunkt eines bloßen Auftrages zurückwerfen. Ohne die Anerken-
nung der ſtandesmäßigen Selbſtändigkeit des amtlichen Lebensberufes
und ſeiner ethiſchen Conſequenzen, die eben in der theilweiſen Ueber-
nahme der Verantwortlichkeit erſcheinen, wird man hier nie zu einem
rechten Abſchluſſe gelangen.

Die Amtspflicht enthält nun noch eine dritte Verpflichtung, welche
aber im Allgemeinen ſchwer oder gar nicht zu definiren iſt, während ſie
in jedem einzelnen Falle ſehr deutlich erſcheint. Sie beſteht darin, ſich
das Verſtändniß der Geſetze und Verordnungen zu erwerben, und
zwar in dem Sinne, daß der einzelne Beamtete in den einzelnen Funk-
tionen auch dann, wenn ſie nicht ausdrücklich vorgeſchrieben ſind, den
Geiſt der Vorſchrift mit den gegebenen Verhältniſſen in Harmonie zu
bringen verſtehe. Man nennt dieſe Fähigkeit in ihrem Erſcheinen als
perſönliches Verhalten die Conduite, als Beurtheilung der Verhält-
niſſe und der richtigen Maßregeln den Takt. Beide ſind natürlich für
eine gute Verwaltung von hoher Wichtigkeit; aber man kann ſie nur
mittelbar hervorrufen. Die beiden Wege ſind einerſeits die möglichſte
Oeffentlichkeit der Funktionen der Verwaltung, und die geheimen
Conduitenliſten. Die letzteren entſtehen da, wo die erſtere fehlt,
und entwickeln ſich in dem Grade, in welchem die perſönliche Verant-
wortlichkeit des Miniſters die Form und berufsmäßige Verantwortlich-
keit des einzelnen Beamteten abſorbirt. Es leuchtet ein, daß dieſelben
um ſo nachtheiliger wirken müſſen, je weniger es zu vermeiden iſt, daß
ihre Angaben neben den Thatſachen auch ein individuelles Urtheil ent-
halten, und daß über ſie der Betreffende nicht gehört werden könne.
Sie verſchwinden daher von ſelbſt mit der Oeffentlichkeit. Damit iſt
natürlich ein amtliches Urtheil über die Amtsführung durchaus nicht
ausgeſchloſſen.

Der amtliche Gehorſam hat ſeine Geſchichte, und jedenfalls bildet er ein
weſentliches Moment in der Geſchichte der Staatsbildung. Die Gränze zwiſchen
ihm und dem abſoluten Gehorſam beginnt bei dem Kampf zwiſchen der einheit-
lichen Staatsidee und dem ſtändiſchen Rechte der Verwaltung, und empfängt
ihren erſten ethiſchen Inhalt durch die Anwendung der amtlichen Gewalt auf
kirchliche Fragen, ihren theoretiſchen durch die Anwendung der Vertragstheorie
auf die Entwicklung des Staatsrechts und die Idee der königlichen Gewalt.
Die Formel: „daß man Gott mehr gehorchen ſolle, als den Menſchen,“ be-
zeichnet den Punkt, wo der kirchliche und der ſtaatliche Gehorſam auch im Amt ſich
berühren. Mit dem Siege der ſtaatlichen Einheit verſchwindet jene Gränze;
das 18. Jahrhundert, namentlich auf dem Continent, zum Theil aber auch in
England (Walpole), iſt die Epoche des unbedingten Gehorfams gegen das

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[357/0381] liegt eben im höheren ethiſchen Weſen des Amtes. Die völlige Ent- laſtung von derſelben würde in der That das Amt wieder auf den Standpunkt eines bloßen Auftrages zurückwerfen. Ohne die Anerken- nung der ſtandesmäßigen Selbſtändigkeit des amtlichen Lebensberufes und ſeiner ethiſchen Conſequenzen, die eben in der theilweiſen Ueber- nahme der Verantwortlichkeit erſcheinen, wird man hier nie zu einem rechten Abſchluſſe gelangen. Die Amtspflicht enthält nun noch eine dritte Verpflichtung, welche aber im Allgemeinen ſchwer oder gar nicht zu definiren iſt, während ſie in jedem einzelnen Falle ſehr deutlich erſcheint. Sie beſteht darin, ſich das Verſtändniß der Geſetze und Verordnungen zu erwerben, und zwar in dem Sinne, daß der einzelne Beamtete in den einzelnen Funk- tionen auch dann, wenn ſie nicht ausdrücklich vorgeſchrieben ſind, den Geiſt der Vorſchrift mit den gegebenen Verhältniſſen in Harmonie zu bringen verſtehe. Man nennt dieſe Fähigkeit in ihrem Erſcheinen als perſönliches Verhalten die Conduite, als Beurtheilung der Verhält- niſſe und der richtigen Maßregeln den Takt. Beide ſind natürlich für eine gute Verwaltung von hoher Wichtigkeit; aber man kann ſie nur mittelbar hervorrufen. Die beiden Wege ſind einerſeits die möglichſte Oeffentlichkeit der Funktionen der Verwaltung, und die geheimen Conduitenliſten. Die letzteren entſtehen da, wo die erſtere fehlt, und entwickeln ſich in dem Grade, in welchem die perſönliche Verant- wortlichkeit des Miniſters die Form und berufsmäßige Verantwortlich- keit des einzelnen Beamteten abſorbirt. Es leuchtet ein, daß dieſelben um ſo nachtheiliger wirken müſſen, je weniger es zu vermeiden iſt, daß ihre Angaben neben den Thatſachen auch ein individuelles Urtheil ent- halten, und daß über ſie der Betreffende nicht gehört werden könne. Sie verſchwinden daher von ſelbſt mit der Oeffentlichkeit. Damit iſt natürlich ein amtliches Urtheil über die Amtsführung durchaus nicht ausgeſchloſſen. Der amtliche Gehorſam hat ſeine Geſchichte, und jedenfalls bildet er ein weſentliches Moment in der Geſchichte der Staatsbildung. Die Gränze zwiſchen ihm und dem abſoluten Gehorſam beginnt bei dem Kampf zwiſchen der einheit- lichen Staatsidee und dem ſtändiſchen Rechte der Verwaltung, und empfängt ihren erſten ethiſchen Inhalt durch die Anwendung der amtlichen Gewalt auf kirchliche Fragen, ihren theoretiſchen durch die Anwendung der Vertragstheorie auf die Entwicklung des Staatsrechts und die Idee der königlichen Gewalt. Die Formel: „daß man Gott mehr gehorchen ſolle, als den Menſchen,“ be- zeichnet den Punkt, wo der kirchliche und der ſtaatliche Gehorſam auch im Amt ſich berühren. Mit dem Siege der ſtaatlichen Einheit verſchwindet jene Gränze; das 18. Jahrhundert, namentlich auf dem Continent, zum Theil aber auch in England (Walpole), iſt die Epoche des unbedingten Gehorfams gegen das

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. 357. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/381>, abgerufen am 22.11.2024.