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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865.

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Selbstverwaltung, das historische Recht, nicht angegriffen. Die Achtung
vor demselben bleibt und die edleren Grundsätze der Reformen halten
daran fest, dieß historische Recht mit dem unabweisbar gewordenen Be-
dürfniß der wahren Verwaltung zu vereinigen. Allein die Träger dieser
historischen Rechte widersetzen sich dieser, bei aller Verderbtheit der Hof-
wirthschaft dennoch vom Königthum im ganzen achtzehnten Jahrhundert
ernstlichst vertretenen Richtung. Sie gebrauchen das große Princip des
historischen Rechts, nicht mehr um das ethische Princip der Selbstver-
waltung gegen die amtliche Verwaltung zur Geltung zu bringen, son-
dern um ihre gesellschaftlichen Vorrechte gegen die Entwicklung der neuen
socialen Forderungen, ja gegen die unbedingten administrativen Bedürf-
nisse des Staats selbst rücksichtslos zu vertheidigen. Da ist es, als ob
die Staatsidee im Zorn ihre Gewalt zusammenfaßte; in Preußen, in
Oesterreich, in Rußland, ja in Skandinavien und sogar in einem
schwachen Versuch in Frankreich tritt das Königthum jener Verderbniß
der Selbstverwaltung entgegen, und zertritt sie offen, aber zugleich das
Recht der Selbstverwaltung selbst brechend. Das geschieht im achtzehnten
Jahrhundert. Nur in England unterliegt das Königthum, und erscheint
die Thatsache, welche eben England auszeichnet, daß hier die Gesetz-
gebung selbst zur Verwaltung wird. Im übrigen Europa verschwindet
mit der Selbständigkeit des ersteren das Recht des Bürgerthums auf
die letztere. Die Länder, Gemeinden und Corporationen müssen sich
beugen; das Königthum greift auf allen Punkten in ihr historisches
Recht, ja in den Grundsatz desselben ein; die Idee der Selbstverwal-
tung wird den einen ein Spott, den andern ein Gegenstand der Ver-
folgung; sie selbst, da sie ihre edlere Natur an die Sonderinteressen
ihrer Vertreter verloren hat, ist machtlos, und die staatliche Verwaltung
steht als Sieger auf den Trümmern der historischen Ordnung der Selbst-
verwaltung im Namen der Entwicklung der höchsten Gesammtinteressen,
die Rechte der Sonderinteressen rücksichtlos vernichtend. Das ist die
Zeit, die wir als den aufgeklärten Despotismus bezeichnen; nicht
wegen seiner Zwecke und Mittel, sondern wegen der grundsätzlichen
Negation des historischen Rechts der Selbstverwaltung. Die höchste und
gränzenloseste Form desselben entsteht aber in der französischen Revo-
lution. Der wesentliche Unterschied derselben von den königlichen Re-
formen im übrigen Europa des achtzehnten Jahrhunderts besteht darin,
daß sie die Selbstverwaltung und mit ihr die Selbständigkeit des Indi-
viduums nicht thatsächlich, sondern principiell und in der Wurzel ver-
nichtete, indem sie das Princip der historisch berechtigten Verwaltungs-
körper selbst aufhob, und an die Stelle derselben Amtskörper setzte.
Einen Augenblick lang war es die Frage in Europa, ob dieß französische

Selbſtverwaltung, das hiſtoriſche Recht, nicht angegriffen. Die Achtung
vor demſelben bleibt und die edleren Grundſätze der Reformen halten
daran feſt, dieß hiſtoriſche Recht mit dem unabweisbar gewordenen Be-
dürfniß der wahren Verwaltung zu vereinigen. Allein die Träger dieſer
hiſtoriſchen Rechte widerſetzen ſich dieſer, bei aller Verderbtheit der Hof-
wirthſchaft dennoch vom Königthum im ganzen achtzehnten Jahrhundert
ernſtlichſt vertretenen Richtung. Sie gebrauchen das große Princip des
hiſtoriſchen Rechts, nicht mehr um das ethiſche Princip der Selbſtver-
waltung gegen die amtliche Verwaltung zur Geltung zu bringen, ſon-
dern um ihre geſellſchaftlichen Vorrechte gegen die Entwicklung der neuen
ſocialen Forderungen, ja gegen die unbedingten adminiſtrativen Bedürf-
niſſe des Staats ſelbſt rückſichtslos zu vertheidigen. Da iſt es, als ob
die Staatsidee im Zorn ihre Gewalt zuſammenfaßte; in Preußen, in
Oeſterreich, in Rußland, ja in Skandinavien und ſogar in einem
ſchwachen Verſuch in Frankreich tritt das Königthum jener Verderbniß
der Selbſtverwaltung entgegen, und zertritt ſie offen, aber zugleich das
Recht der Selbſtverwaltung ſelbſt brechend. Das geſchieht im achtzehnten
Jahrhundert. Nur in England unterliegt das Königthum, und erſcheint
die Thatſache, welche eben England auszeichnet, daß hier die Geſetz-
gebung ſelbſt zur Verwaltung wird. Im übrigen Europa verſchwindet
mit der Selbſtändigkeit des erſteren das Recht des Bürgerthums auf
die letztere. Die Länder, Gemeinden und Corporationen müſſen ſich
beugen; das Königthum greift auf allen Punkten in ihr hiſtoriſches
Recht, ja in den Grundſatz deſſelben ein; die Idee der Selbſtverwal-
tung wird den einen ein Spott, den andern ein Gegenſtand der Ver-
folgung; ſie ſelbſt, da ſie ihre edlere Natur an die Sonderintereſſen
ihrer Vertreter verloren hat, iſt machtlos, und die ſtaatliche Verwaltung
ſteht als Sieger auf den Trümmern der hiſtoriſchen Ordnung der Selbſt-
verwaltung im Namen der Entwicklung der höchſten Geſammtintereſſen,
die Rechte der Sonderintereſſen rückſichtlos vernichtend. Das iſt die
Zeit, die wir als den aufgeklärten Deſpotismus bezeichnen; nicht
wegen ſeiner Zwecke und Mittel, ſondern wegen der grundſätzlichen
Negation des hiſtoriſchen Rechts der Selbſtverwaltung. Die höchſte und
gränzenloſeſte Form deſſelben entſteht aber in der franzöſiſchen Revo-
lution. Der weſentliche Unterſchied derſelben von den königlichen Re-
formen im übrigen Europa des achtzehnten Jahrhunderts beſteht darin,
daß ſie die Selbſtverwaltung und mit ihr die Selbſtändigkeit des Indi-
viduums nicht thatſächlich, ſondern principiell und in der Wurzel ver-
nichtete, indem ſie das Princip der hiſtoriſch berechtigten Verwaltungs-
körper ſelbſt aufhob, und an die Stelle derſelben Amtskörper ſetzte.
Einen Augenblick lang war es die Frage in Europa, ob dieß franzöſiſche

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[384/0408] Selbſtverwaltung, das hiſtoriſche Recht, nicht angegriffen. Die Achtung vor demſelben bleibt und die edleren Grundſätze der Reformen halten daran feſt, dieß hiſtoriſche Recht mit dem unabweisbar gewordenen Be- dürfniß der wahren Verwaltung zu vereinigen. Allein die Träger dieſer hiſtoriſchen Rechte widerſetzen ſich dieſer, bei aller Verderbtheit der Hof- wirthſchaft dennoch vom Königthum im ganzen achtzehnten Jahrhundert ernſtlichſt vertretenen Richtung. Sie gebrauchen das große Princip des hiſtoriſchen Rechts, nicht mehr um das ethiſche Princip der Selbſtver- waltung gegen die amtliche Verwaltung zur Geltung zu bringen, ſon- dern um ihre geſellſchaftlichen Vorrechte gegen die Entwicklung der neuen ſocialen Forderungen, ja gegen die unbedingten adminiſtrativen Bedürf- niſſe des Staats ſelbſt rückſichtslos zu vertheidigen. Da iſt es, als ob die Staatsidee im Zorn ihre Gewalt zuſammenfaßte; in Preußen, in Oeſterreich, in Rußland, ja in Skandinavien und ſogar in einem ſchwachen Verſuch in Frankreich tritt das Königthum jener Verderbniß der Selbſtverwaltung entgegen, und zertritt ſie offen, aber zugleich das Recht der Selbſtverwaltung ſelbſt brechend. Das geſchieht im achtzehnten Jahrhundert. Nur in England unterliegt das Königthum, und erſcheint die Thatſache, welche eben England auszeichnet, daß hier die Geſetz- gebung ſelbſt zur Verwaltung wird. Im übrigen Europa verſchwindet mit der Selbſtändigkeit des erſteren das Recht des Bürgerthums auf die letztere. Die Länder, Gemeinden und Corporationen müſſen ſich beugen; das Königthum greift auf allen Punkten in ihr hiſtoriſches Recht, ja in den Grundſatz deſſelben ein; die Idee der Selbſtverwal- tung wird den einen ein Spott, den andern ein Gegenſtand der Ver- folgung; ſie ſelbſt, da ſie ihre edlere Natur an die Sonderintereſſen ihrer Vertreter verloren hat, iſt machtlos, und die ſtaatliche Verwaltung ſteht als Sieger auf den Trümmern der hiſtoriſchen Ordnung der Selbſt- verwaltung im Namen der Entwicklung der höchſten Geſammtintereſſen, die Rechte der Sonderintereſſen rückſichtlos vernichtend. Das iſt die Zeit, die wir als den aufgeklärten Deſpotismus bezeichnen; nicht wegen ſeiner Zwecke und Mittel, ſondern wegen der grundſätzlichen Negation des hiſtoriſchen Rechts der Selbſtverwaltung. Die höchſte und gränzenloſeſte Form deſſelben entſteht aber in der franzöſiſchen Revo- lution. Der weſentliche Unterſchied derſelben von den königlichen Re- formen im übrigen Europa des achtzehnten Jahrhunderts beſteht darin, daß ſie die Selbſtverwaltung und mit ihr die Selbſtändigkeit des Indi- viduums nicht thatſächlich, ſondern principiell und in der Wurzel ver- nichtete, indem ſie das Princip der hiſtoriſch berechtigten Verwaltungs- körper ſelbſt aufhob, und an die Stelle derſelben Amtskörper ſetzte. Einen Augenblick lang war es die Frage in Europa, ob dieß franzöſiſche

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. 384. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/408>, abgerufen am 24.11.2024.