Verwaltung verantwortlich macht. Wir lernen aber auch an ihm, wo die Gränze desjenigen ist, was diese Selbstverwaltung leisten kann. Wir bewundern es vielleicht nach der einen Seite hin noch immer nicht ge- nug, denn wir vermögen es noch immer nicht ihm in der staatlichen Energie der Einzelnen gleich zu thun; wir bewundern es aber gewiß nach einer andern Seite hin zu viel, denn wir sind auch hier geneigt, das Eigene, Große und Gute neben dem Fremden gering zu achten. Wir müssen daher, von der Selbstverwaltung redend, den Versuch machen, nicht bloß ein vollständiges Bild derselben zu entwerfen, son- dern auch die große Mannigfaltigkeit seiner Theile auf einfache und für ganz Europa gemeingültige Grundlagen zurückzuführen, und so England nicht mehr bloß durch England, sondern durch die Staatenbildungs- gesetze zu verstehen, welche die menschliche Welt ewig beherrschen werden.
Die innere Geschichte Englands setzen wir als bekannt voraus.
Der innere Entwicklungsgang dieser Geschichte hat nun dem König- thum niemals dieselbe Macht verliehen, die es auf dem Continent hatte. Gesetz und Verordnung sind niemals verschmolzen, sondern das Volk hat sich selbst seine Gesetze gegeben. Es möge uns dabei die Thatsache genügen, daß dem so ist. Aus dieser Thatsache geht nun das erste große Princip des englischen Staatslebens hervor, das früher oft ge- trübt, doch seit hundert Jahren in ganz unzweifelhafter Geltung besteht, daß nämlich die Staatsgewalt nur zu denjenigen Thätigkeiten ein Recht hat, welche auf einem formellen Gesetze, oder dem common law be- ruhen. Die staatliche Verwaltung hat nur die Ausführung der Gesetze zu vollbringen und zu verantworten. Daraus folgt, daß dieselbe im Namen der abstrakten Staatsidee, ihrer Lebensbedingungen und Forde- rungen, niemanden zu etwas auf dem Verwaltungswege zwingen kann, wozu derselbe nicht auf dem Wege der Gesetzgebung gezwungen ist. Die Verwaltung existirt daher nur so weit, als sie Gesetzgebung ist, und die Ausführung jedes Verwaltungsaktes gegen den Einzelnen ist daher im Grunde die Execution eines, auf ein solches Gesetz gestützten richterlichen Urtheils.
Daraus nun folgt, daß wo immer sich allgemeine Bedürfnisse zeigen, dieselben niemals durch Regierungsbehörden erfüllt werden können und dürfen, wenn nicht die Gesetzgebung darüber gesprochen hat. Sollen sie daher dennoch erfüllt werden, so müssen die Einzelnen selbstthätig die Funktionen übernehmen, welche im Begriffe der Regierung liegen, wenn sie nicht wollen, daß sie ganz unterbleiben. Sie müssen die ge- sammte Regierungsgewalt örtlich übernehmen, damit sie überhaupt aus- geübt werde. Sie sind daher nicht ein Complement der Regierung und ihres Amtsorganismus, sondern sie sind diese örtliche Regierung
Verwaltung verantwortlich macht. Wir lernen aber auch an ihm, wo die Gränze desjenigen iſt, was dieſe Selbſtverwaltung leiſten kann. Wir bewundern es vielleicht nach der einen Seite hin noch immer nicht ge- nug, denn wir vermögen es noch immer nicht ihm in der ſtaatlichen Energie der Einzelnen gleich zu thun; wir bewundern es aber gewiß nach einer andern Seite hin zu viel, denn wir ſind auch hier geneigt, das Eigene, Große und Gute neben dem Fremden gering zu achten. Wir müſſen daher, von der Selbſtverwaltung redend, den Verſuch machen, nicht bloß ein vollſtändiges Bild derſelben zu entwerfen, ſon- dern auch die große Mannigfaltigkeit ſeiner Theile auf einfache und für ganz Europa gemeingültige Grundlagen zurückzuführen, und ſo England nicht mehr bloß durch England, ſondern durch die Staatenbildungs- geſetze zu verſtehen, welche die menſchliche Welt ewig beherrſchen werden.
Die innere Geſchichte Englands ſetzen wir als bekannt voraus.
Der innere Entwicklungsgang dieſer Geſchichte hat nun dem König- thum niemals dieſelbe Macht verliehen, die es auf dem Continent hatte. Geſetz und Verordnung ſind niemals verſchmolzen, ſondern das Volk hat ſich ſelbſt ſeine Geſetze gegeben. Es möge uns dabei die Thatſache genügen, daß dem ſo iſt. Aus dieſer Thatſache geht nun das erſte große Princip des engliſchen Staatslebens hervor, das früher oft ge- trübt, doch ſeit hundert Jahren in ganz unzweifelhafter Geltung beſteht, daß nämlich die Staatsgewalt nur zu denjenigen Thätigkeiten ein Recht hat, welche auf einem formellen Geſetze, oder dem common law be- ruhen. Die ſtaatliche Verwaltung hat nur die Ausführung der Geſetze zu vollbringen und zu verantworten. Daraus folgt, daß dieſelbe im Namen der abſtrakten Staatsidee, ihrer Lebensbedingungen und Forde- rungen, niemanden zu etwas auf dem Verwaltungswege zwingen kann, wozu derſelbe nicht auf dem Wege der Geſetzgebung gezwungen iſt. Die Verwaltung exiſtirt daher nur ſo weit, als ſie Geſetzgebung iſt, und die Ausführung jedes Verwaltungsaktes gegen den Einzelnen iſt daher im Grunde die Execution eines, auf ein ſolches Geſetz geſtützten richterlichen Urtheils.
Daraus nun folgt, daß wo immer ſich allgemeine Bedürfniſſe zeigen, dieſelben niemals durch Regierungsbehörden erfüllt werden können und dürfen, wenn nicht die Geſetzgebung darüber geſprochen hat. Sollen ſie daher dennoch erfüllt werden, ſo müſſen die Einzelnen ſelbſtthätig die Funktionen übernehmen, welche im Begriffe der Regierung liegen, wenn ſie nicht wollen, daß ſie ganz unterbleiben. Sie müſſen die ge- ſammte Regierungsgewalt örtlich übernehmen, damit ſie überhaupt aus- geübt werde. Sie ſind daher nicht ein Complement der Regierung und ihres Amtsorganismus, ſondern ſie ſind dieſe örtliche Regierung
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Verwaltung verantwortlich macht. Wir lernen aber auch an ihm, wo die
Gränze desjenigen iſt, was dieſe Selbſtverwaltung leiſten kann. Wir
bewundern es vielleicht nach der einen Seite hin noch immer nicht ge-
nug, denn wir vermögen es noch immer nicht ihm in der ſtaatlichen
Energie der Einzelnen gleich zu thun; wir bewundern es aber gewiß
nach einer andern Seite hin zu viel, denn wir ſind auch hier geneigt,
das Eigene, Große und Gute neben dem Fremden gering zu achten.
Wir müſſen daher, von der Selbſtverwaltung redend, den Verſuch
machen, nicht bloß ein vollſtändiges Bild derſelben zu entwerfen, ſon-
dern auch die große Mannigfaltigkeit ſeiner Theile auf einfache und für
ganz Europa gemeingültige Grundlagen zurückzuführen, und ſo England
nicht mehr bloß durch England, ſondern durch die Staatenbildungs-
geſetze zu verſtehen, welche die menſchliche Welt ewig beherrſchen werden.
Die innere Geſchichte Englands ſetzen wir als bekannt voraus.
Der innere Entwicklungsgang dieſer Geſchichte hat nun dem König-
thum niemals dieſelbe Macht verliehen, die es auf dem Continent hatte.
Geſetz und Verordnung ſind niemals verſchmolzen, ſondern das Volk
hat ſich ſelbſt ſeine Geſetze gegeben. Es möge uns dabei die Thatſache
genügen, daß dem ſo iſt. Aus dieſer Thatſache geht nun das erſte
große Princip des engliſchen Staatslebens hervor, das früher oft ge-
trübt, doch ſeit hundert Jahren in ganz unzweifelhafter Geltung beſteht,
daß nämlich die Staatsgewalt nur zu denjenigen Thätigkeiten ein Recht
hat, welche auf einem formellen Geſetze, oder dem common law be-
ruhen. Die ſtaatliche Verwaltung hat nur die Ausführung der Geſetze
zu vollbringen und zu verantworten. Daraus folgt, daß dieſelbe im
Namen der abſtrakten Staatsidee, ihrer Lebensbedingungen und Forde-
rungen, niemanden zu etwas auf dem Verwaltungswege zwingen kann,
wozu derſelbe nicht auf dem Wege der Geſetzgebung gezwungen iſt. Die
Verwaltung exiſtirt daher nur ſo weit, als ſie Geſetzgebung iſt,
und die Ausführung jedes Verwaltungsaktes gegen den Einzelnen iſt
daher im Grunde die Execution eines, auf ein ſolches Geſetz geſtützten
richterlichen Urtheils.
Daraus nun folgt, daß wo immer ſich allgemeine Bedürfniſſe zeigen,
dieſelben niemals durch Regierungsbehörden erfüllt werden können und
dürfen, wenn nicht die Geſetzgebung darüber geſprochen hat. Sollen
ſie daher dennoch erfüllt werden, ſo müſſen die Einzelnen ſelbſtthätig
die Funktionen übernehmen, welche im Begriffe der Regierung liegen,
wenn ſie nicht wollen, daß ſie ganz unterbleiben. Sie müſſen die ge-
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geübt werde. Sie ſind daher nicht ein Complement der Regierung und
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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. 386. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/410>, abgerufen am 22.11.2024.
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