unserem Sinne geradezu unmöglich; ja, schon im Jahre 1790 führten die Gesetze vom 16 -- 20. August, wie schon oben erwähnt, den Ge- danken durch, daß die vollziehende Gewalt nicht einmal bei Verletzun- gen des bürgerlichen Rechts auf dem Wege der Klage vor den Gerich- ten, sondern nur auf dem Wege der Beschwerde vor ihren eigenen höheren Stellen, dem Minister und dem Conseil d'Etat belangt werden konnten. In der That, wohin wäre die Revolution gelangt, hätte man bei den Confiskationen und Hinrichtungen durch die Commissäre erst vor dem Gerichte einen Proceß führen müssen -- was hätten die Assignaten bedeutet, wenn die Titel des Besitzes der Nationalgüter ge- richtlich hätten konstatirt werden sollen?
Dennoch ließ sich andererseits die zweite Anwendung des Princips der Freiheit, die grundsätzliche Theilnahme des Staatsbürgers auch an der vollziehenden Gewalt nicht bestreiten. Es wäre ein zu schreiender Widerspruch gewesen, jedem Staatsbürger durch freie Wahl volle Be- theiligung an der Gesetzgebung zu verleihen, und daneben die Verwal- tung als eine, von jeder solchen Betheiligung ausgeschlossene Potenz hinzustellen. Auch dieß Gefühl war lebendig genug, um seine volle und grundsätzliche Anerkennung zu finden. Es kam daher jetzt nur darauf an, einen Mittelweg zu finden, einen Weg, auf welchem man die volle und freie Selbstthätigkeit der Verwaltung erhalten und dennoch dem Staatsbürgerthum einen Antheil an derselben geben könne. Dieser Mittelweg mußte der ganzen Selbstverwaltung Frankreichs ihren Cha- rakter geben. Und man hat ihn gefunden, indem man an die Stelle der eigentlichen Selbstverwaltung das ächt französische System der Conseils gestellt hat.
Es ist ganz nothwendig, sich über das Wesen dieser, das ganze Verwaltungssystem Frankreichs durchdringenden Conseils klar zu sein; denn in ihnen beruht eigentlich die Individualität des französischen Verwaltungsorganismus, sie sind das Beispiel für viele ähnliche Insti- tute, das Muster für viel Gutes auf dem übrigen Continent geworden, während derselbe neben ihnen noch seine eigenthümliche Selbstverwal- tung beibehalten hat. Sie bilden die zweite große Grundformation der Selbstverwaltung überhaupt, und werden es thun für alle Zeiten.
Der Begriff der französischen Conseils enthält nämlich zuerst eine, auf ganz oder doch theilweise freier Wahl beruhende Organisation eines vorzugsweise berathenden Körpers an der Seite eines voll- ziehenden amtlichen Organes. Das Conseil kann auch in ge- wissen Punkten eine beschließende Gewalt haben; allein erstlich sind diese Punkte stets sehr untergeordneter Natur, andererseits steht jeder Beschluß wieder unter Verbot und Genehmigung der höheren Behörde. Der
unſerem Sinne geradezu unmöglich; ja, ſchon im Jahre 1790 führten die Geſetze vom 16 — 20. Auguſt, wie ſchon oben erwähnt, den Ge- danken durch, daß die vollziehende Gewalt nicht einmal bei Verletzun- gen des bürgerlichen Rechts auf dem Wege der Klage vor den Gerich- ten, ſondern nur auf dem Wege der Beſchwerde vor ihren eigenen höheren Stellen, dem Miniſter und dem Conseil d’État belangt werden konnten. In der That, wohin wäre die Revolution gelangt, hätte man bei den Confiskationen und Hinrichtungen durch die Commiſſäre erſt vor dem Gerichte einen Proceß führen müſſen — was hätten die Aſſignaten bedeutet, wenn die Titel des Beſitzes der Nationalgüter ge- richtlich hätten konſtatirt werden ſollen?
Dennoch ließ ſich andererſeits die zweite Anwendung des Princips der Freiheit, die grundſätzliche Theilnahme des Staatsbürgers auch an der vollziehenden Gewalt nicht beſtreiten. Es wäre ein zu ſchreiender Widerſpruch geweſen, jedem Staatsbürger durch freie Wahl volle Be- theiligung an der Geſetzgebung zu verleihen, und daneben die Verwal- tung als eine, von jeder ſolchen Betheiligung ausgeſchloſſene Potenz hinzuſtellen. Auch dieß Gefühl war lebendig genug, um ſeine volle und grundſätzliche Anerkennung zu finden. Es kam daher jetzt nur darauf an, einen Mittelweg zu finden, einen Weg, auf welchem man die volle und freie Selbſtthätigkeit der Verwaltung erhalten und dennoch dem Staatsbürgerthum einen Antheil an derſelben geben könne. Dieſer Mittelweg mußte der ganzen Selbſtverwaltung Frankreichs ihren Cha- rakter geben. Und man hat ihn gefunden, indem man an die Stelle der eigentlichen Selbſtverwaltung das ächt franzöſiſche Syſtem der Conseils geſtellt hat.
Es iſt ganz nothwendig, ſich über das Weſen dieſer, das ganze Verwaltungsſyſtem Frankreichs durchdringenden Conseils klar zu ſein; denn in ihnen beruht eigentlich die Individualität des franzöſiſchen Verwaltungsorganismus, ſie ſind das Beiſpiel für viele ähnliche Inſti- tute, das Muſter für viel Gutes auf dem übrigen Continent geworden, während derſelbe neben ihnen noch ſeine eigenthümliche Selbſtverwal- tung beibehalten hat. Sie bilden die zweite große Grundformation der Selbſtverwaltung überhaupt, und werden es thun für alle Zeiten.
Der Begriff der franzöſiſchen Conseils enthält nämlich zuerſt eine, auf ganz oder doch theilweiſe freier Wahl beruhende Organiſation eines vorzugsweiſe berathenden Körpers an der Seite eines voll- ziehenden amtlichen Organes. Das Conseil kann auch in ge- wiſſen Punkten eine beſchließende Gewalt haben; allein erſtlich ſind dieſe Punkte ſtets ſehr untergeordneter Natur, andererſeits ſteht jeder Beſchluß wieder unter Verbot und Genehmigung der höheren Behörde. Der
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0417"n="393"/>
unſerem Sinne geradezu unmöglich; ja, ſchon im Jahre 1790 führten<lb/>
die Geſetze vom 16 — 20. Auguſt, wie ſchon oben erwähnt, den Ge-<lb/>
danken durch, daß die vollziehende Gewalt nicht einmal bei Verletzun-<lb/>
gen des bürgerlichen Rechts auf dem Wege der Klage vor den Gerich-<lb/>
ten, ſondern nur auf dem Wege der Beſchwerde vor ihren eigenen<lb/>
höheren Stellen, dem Miniſter und dem <hirendition="#aq">Conseil d’État</hi> belangt werden<lb/>
konnten. In der That, wohin wäre die Revolution gelangt, hätte<lb/>
man bei den Confiskationen und Hinrichtungen durch die Commiſſäre<lb/>
erſt vor dem Gerichte einen Proceß führen müſſen — was hätten die<lb/>
Aſſignaten bedeutet, wenn die Titel des Beſitzes der Nationalgüter ge-<lb/>
richtlich hätten konſtatirt werden ſollen?</p><lb/><p>Dennoch ließ ſich andererſeits die zweite Anwendung des Princips<lb/>
der Freiheit, die grundſätzliche Theilnahme des Staatsbürgers auch an<lb/>
der vollziehenden Gewalt nicht beſtreiten. Es wäre ein zu ſchreiender<lb/>
Widerſpruch geweſen, jedem Staatsbürger durch freie Wahl volle Be-<lb/>
theiligung an der Geſetzgebung zu verleihen, und daneben die Verwal-<lb/>
tung als eine, von jeder ſolchen Betheiligung ausgeſchloſſene Potenz<lb/>
hinzuſtellen. Auch dieß Gefühl war lebendig genug, um ſeine volle<lb/>
und grundſätzliche Anerkennung zu finden. Es kam daher jetzt nur<lb/>
darauf an, einen Mittelweg zu finden, einen Weg, auf welchem man<lb/>
die volle und freie Selbſtthätigkeit der Verwaltung erhalten und dennoch<lb/>
dem Staatsbürgerthum einen Antheil an derſelben geben könne. Dieſer<lb/>
Mittelweg mußte der ganzen Selbſtverwaltung Frankreichs ihren Cha-<lb/>
rakter geben. Und man hat ihn gefunden, indem man an die Stelle<lb/>
der eigentlichen Selbſtverwaltung das ächt franzöſiſche Syſtem der<lb/><hirendition="#i"><hirendition="#aq">Conseils</hi></hi> geſtellt hat.</p><lb/><p>Es iſt ganz nothwendig, ſich über das Weſen dieſer, das ganze<lb/>
Verwaltungsſyſtem Frankreichs durchdringenden <hirendition="#aq">Conseils</hi> klar zu ſein;<lb/>
denn in ihnen beruht eigentlich die Individualität des franzöſiſchen<lb/>
Verwaltungsorganismus, ſie ſind das Beiſpiel für viele ähnliche Inſti-<lb/>
tute, das Muſter für viel Gutes auf dem übrigen Continent geworden,<lb/>
während derſelbe neben ihnen noch ſeine eigenthümliche Selbſtverwal-<lb/>
tung beibehalten hat. Sie bilden die zweite große Grundformation der<lb/>
Selbſtverwaltung überhaupt, und werden es thun für alle Zeiten.</p><lb/><p>Der Begriff der franzöſiſchen <hirendition="#aq">Conseils</hi> enthält nämlich zuerſt eine,<lb/>
auf ganz oder doch theilweiſe freier Wahl beruhende Organiſation eines<lb/>
vorzugsweiſe <hirendition="#g">berathenden Körpers an der Seite eines voll-<lb/>
ziehenden amtlichen Organes</hi>. Das <hirendition="#aq">Conseil</hi> kann auch in ge-<lb/>
wiſſen Punkten eine beſchließende Gewalt haben; allein erſtlich ſind dieſe<lb/>
Punkte ſtets ſehr untergeordneter Natur, andererſeits ſteht jeder Beſchluß<lb/>
wieder unter Verbot und Genehmigung der höheren <hirendition="#g">Behörde</hi>. Der<lb/></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[393/0417]
unſerem Sinne geradezu unmöglich; ja, ſchon im Jahre 1790 führten
die Geſetze vom 16 — 20. Auguſt, wie ſchon oben erwähnt, den Ge-
danken durch, daß die vollziehende Gewalt nicht einmal bei Verletzun-
gen des bürgerlichen Rechts auf dem Wege der Klage vor den Gerich-
ten, ſondern nur auf dem Wege der Beſchwerde vor ihren eigenen
höheren Stellen, dem Miniſter und dem Conseil d’État belangt werden
konnten. In der That, wohin wäre die Revolution gelangt, hätte
man bei den Confiskationen und Hinrichtungen durch die Commiſſäre
erſt vor dem Gerichte einen Proceß führen müſſen — was hätten die
Aſſignaten bedeutet, wenn die Titel des Beſitzes der Nationalgüter ge-
richtlich hätten konſtatirt werden ſollen?
Dennoch ließ ſich andererſeits die zweite Anwendung des Princips
der Freiheit, die grundſätzliche Theilnahme des Staatsbürgers auch an
der vollziehenden Gewalt nicht beſtreiten. Es wäre ein zu ſchreiender
Widerſpruch geweſen, jedem Staatsbürger durch freie Wahl volle Be-
theiligung an der Geſetzgebung zu verleihen, und daneben die Verwal-
tung als eine, von jeder ſolchen Betheiligung ausgeſchloſſene Potenz
hinzuſtellen. Auch dieß Gefühl war lebendig genug, um ſeine volle
und grundſätzliche Anerkennung zu finden. Es kam daher jetzt nur
darauf an, einen Mittelweg zu finden, einen Weg, auf welchem man
die volle und freie Selbſtthätigkeit der Verwaltung erhalten und dennoch
dem Staatsbürgerthum einen Antheil an derſelben geben könne. Dieſer
Mittelweg mußte der ganzen Selbſtverwaltung Frankreichs ihren Cha-
rakter geben. Und man hat ihn gefunden, indem man an die Stelle
der eigentlichen Selbſtverwaltung das ächt franzöſiſche Syſtem der
Conseils geſtellt hat.
Es iſt ganz nothwendig, ſich über das Weſen dieſer, das ganze
Verwaltungsſyſtem Frankreichs durchdringenden Conseils klar zu ſein;
denn in ihnen beruht eigentlich die Individualität des franzöſiſchen
Verwaltungsorganismus, ſie ſind das Beiſpiel für viele ähnliche Inſti-
tute, das Muſter für viel Gutes auf dem übrigen Continent geworden,
während derſelbe neben ihnen noch ſeine eigenthümliche Selbſtverwal-
tung beibehalten hat. Sie bilden die zweite große Grundformation der
Selbſtverwaltung überhaupt, und werden es thun für alle Zeiten.
Der Begriff der franzöſiſchen Conseils enthält nämlich zuerſt eine,
auf ganz oder doch theilweiſe freier Wahl beruhende Organiſation eines
vorzugsweiſe berathenden Körpers an der Seite eines voll-
ziehenden amtlichen Organes. Das Conseil kann auch in ge-
wiſſen Punkten eine beſchließende Gewalt haben; allein erſtlich ſind dieſe
Punkte ſtets ſehr untergeordneter Natur, andererſeits ſteht jeder Beſchluß
wieder unter Verbot und Genehmigung der höheren Behörde. Der
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. 393. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/417>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.