Die Frage nach der Gränze des Rechts beider trat auf jedem Punkte des Organismus auf. Beide werden durch höhere Anschauungen ge- tragen; jene berufen sich auf die Idee des Rechts, diese auf die Idee der freien Persönlichkeit. Der Kampf beginnt. Sein Ende war leicht vorherzusehen, wenn auch schwer zu berechnen. Die neue Zeit machte aus den Ständen eine Reichsverfassung; sie erhob den abhängigen Bauer zum freien Grundbesitzer durch die Ablösung, und gab damit dem flachen Lande die erste Bedingung der Gemeindeordnung; aber sie vernichtete keinesweges die Idee des organischen Staates. Sie hielt dieselbe nicht bloß aufrecht; sie bildete sie vielmehr noch weiter aus. Sie schritt daher auf beiden Gebieten ziemlich gleichmäßig vorwärts; und so gelangte sie dahin, durch Ausgleichung der historischen Besonder- heiten in den Selbstverwaltungskörpern ein System der Selbst- verwaltung zu schaffen, welches auf dem Grundsatz beruht, daß auf jedem Punkte der ganzen Verwaltung sich das amtliche System und das Selbstverwaltungssystem berühren und so weit möglich in Gemein- schaft wirken sollen.
Natürlich entstanden daraus eine Reihe von neuen und eigen- thümlichen Verhältnissen, welche in der Art weder in England noch in Frankreich vorkommen, und die man nothwendig klar hervorheben muß, um einerseits die Individualität des deutschen Staatslebens zu verstehen, und andererseits eine Vorstellung zu beseitigen, als ob die Grundformen des deutschen Lebens auch die der Begriffe von staatlicher und von Selbstverwaltung überhaupt seien. Mit der Beseitigung dieser Vorstellung wird erst die deutsche Staatslehre ihre volle Entwicklung erreichen.
Die erste große, uns eigenthümliche Thatsache ist die, daß die Volksvertretungen, meistens auf Grundlage der alten Landschaften gebildet und daher an ein gewisses Maß der Verwaltung gewöhnt, auch nach englischem Princip als gesetzgebender Körper in die Ver- waltung einzugreifen strebten, während das Ministerialsystem sie davon so weit als möglich nach französischem Muster abhielt. In gleicher Weise begann auch in den Gemeinden ein solcher Kampf zwischen Behörden und Gemeindeorganen. Daraus entstand die Vorstellung, die Deutschland eigenthümlich ist, als seien überhaupt Gesetzgebung und Staatsverwaltung einerseits, Behördenthum und Selbstverwaltung andererseits zwei feindliche Potenzen, und als müsse man es als einen Fortschritt zur Freiheit ansehen, wenn die staatliche Verwaltung der Selbstverwaltung so viel als möglich untergeordnet werde. Andere Elemente wirkten daneben in gleichem Sinne thätig mit. Man formu- lirte sogar die Gegensätze als Autonomie und Bureaukratie, ohne
Die Frage nach der Gränze des Rechts beider trat auf jedem Punkte des Organismus auf. Beide werden durch höhere Anſchauungen ge- tragen; jene berufen ſich auf die Idee des Rechts, dieſe auf die Idee der freien Perſönlichkeit. Der Kampf beginnt. Sein Ende war leicht vorherzuſehen, wenn auch ſchwer zu berechnen. Die neue Zeit machte aus den Ständen eine Reichsverfaſſung; ſie erhob den abhängigen Bauer zum freien Grundbeſitzer durch die Ablöſung, und gab damit dem flachen Lande die erſte Bedingung der Gemeindeordnung; aber ſie vernichtete keinesweges die Idee des organiſchen Staates. Sie hielt dieſelbe nicht bloß aufrecht; ſie bildete ſie vielmehr noch weiter aus. Sie ſchritt daher auf beiden Gebieten ziemlich gleichmäßig vorwärts; und ſo gelangte ſie dahin, durch Ausgleichung der hiſtoriſchen Beſonder- heiten in den Selbſtverwaltungskörpern ein Syſtem der Selbſt- verwaltung zu ſchaffen, welches auf dem Grundſatz beruht, daß auf jedem Punkte der ganzen Verwaltung ſich das amtliche Syſtem und das Selbſtverwaltungsſyſtem berühren und ſo weit möglich in Gemein- ſchaft wirken ſollen.
Natürlich entſtanden daraus eine Reihe von neuen und eigen- thümlichen Verhältniſſen, welche in der Art weder in England noch in Frankreich vorkommen, und die man nothwendig klar hervorheben muß, um einerſeits die Individualität des deutſchen Staatslebens zu verſtehen, und andererſeits eine Vorſtellung zu beſeitigen, als ob die Grundformen des deutſchen Lebens auch die der Begriffe von ſtaatlicher und von Selbſtverwaltung überhaupt ſeien. Mit der Beſeitigung dieſer Vorſtellung wird erſt die deutſche Staatslehre ihre volle Entwicklung erreichen.
Die erſte große, uns eigenthümliche Thatſache iſt die, daß die Volksvertretungen, meiſtens auf Grundlage der alten Landſchaften gebildet und daher an ein gewiſſes Maß der Verwaltung gewöhnt, auch nach engliſchem Princip als geſetzgebender Körper in die Ver- waltung einzugreifen ſtrebten, während das Miniſterialſyſtem ſie davon ſo weit als möglich nach franzöſiſchem Muſter abhielt. In gleicher Weiſe begann auch in den Gemeinden ein ſolcher Kampf zwiſchen Behörden und Gemeindeorganen. Daraus entſtand die Vorſtellung, die Deutſchland eigenthümlich iſt, als ſeien überhaupt Geſetzgebung und Staatsverwaltung einerſeits, Behördenthum und Selbſtverwaltung andererſeits zwei feindliche Potenzen, und als müſſe man es als einen Fortſchritt zur Freiheit anſehen, wenn die ſtaatliche Verwaltung der Selbſtverwaltung ſo viel als möglich untergeordnet werde. Andere Elemente wirkten daneben in gleichem Sinne thätig mit. Man formu- lirte ſogar die Gegenſätze als Autonomie und Bureaukratie, ohne
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Die Frage nach der Gränze des Rechts beider trat auf jedem Punkte
des Organismus auf. Beide werden durch höhere Anſchauungen ge-
tragen; jene berufen ſich auf die Idee des Rechts, dieſe auf die Idee
der freien Perſönlichkeit. Der Kampf beginnt. Sein Ende war leicht
vorherzuſehen, wenn auch ſchwer zu berechnen. Die neue Zeit machte
aus den Ständen eine Reichsverfaſſung; ſie erhob den abhängigen
Bauer zum freien Grundbeſitzer durch die Ablöſung, und gab damit
dem flachen Lande die erſte Bedingung der Gemeindeordnung; aber ſie
vernichtete keinesweges die Idee des organiſchen Staates. Sie hielt
dieſelbe nicht bloß aufrecht; ſie bildete ſie vielmehr noch weiter aus.
Sie ſchritt daher auf beiden Gebieten ziemlich gleichmäßig vorwärts;
und ſo gelangte ſie dahin, durch Ausgleichung der hiſtoriſchen Beſonder-
heiten in den Selbſtverwaltungskörpern ein Syſtem der Selbſt-
verwaltung zu ſchaffen, welches auf dem Grundſatz beruht, daß auf
jedem Punkte der ganzen Verwaltung ſich das amtliche Syſtem und
das Selbſtverwaltungsſyſtem berühren und ſo weit möglich in Gemein-
ſchaft wirken ſollen.
Natürlich entſtanden daraus eine Reihe von neuen und eigen-
thümlichen Verhältniſſen, welche in der Art weder in England noch
in Frankreich vorkommen, und die man nothwendig klar hervorheben
muß, um einerſeits die Individualität des deutſchen Staatslebens zu
verſtehen, und andererſeits eine Vorſtellung zu beſeitigen, als ob die
Grundformen des deutſchen Lebens auch die der Begriffe von ſtaatlicher
und von Selbſtverwaltung überhaupt ſeien. Mit der Beſeitigung dieſer
Vorſtellung wird erſt die deutſche Staatslehre ihre volle Entwicklung
erreichen.
Die erſte große, uns eigenthümliche Thatſache iſt die, daß die
Volksvertretungen, meiſtens auf Grundlage der alten Landſchaften
gebildet und daher an ein gewiſſes Maß der Verwaltung gewöhnt,
auch nach engliſchem Princip als geſetzgebender Körper in die Ver-
waltung einzugreifen ſtrebten, während das Miniſterialſyſtem ſie davon
ſo weit als möglich nach franzöſiſchem Muſter abhielt. In gleicher
Weiſe begann auch in den Gemeinden ein ſolcher Kampf zwiſchen
Behörden und Gemeindeorganen. Daraus entſtand die Vorſtellung,
die Deutſchland eigenthümlich iſt, als ſeien überhaupt Geſetzgebung und
Staatsverwaltung einerſeits, Behördenthum und Selbſtverwaltung
andererſeits zwei feindliche Potenzen, und als müſſe man es als einen
Fortſchritt zur Freiheit anſehen, wenn die ſtaatliche Verwaltung der
Selbſtverwaltung ſo viel als möglich untergeordnet werde. Andere
Elemente wirkten daneben in gleichem Sinne thätig mit. Man formu-
lirte ſogar die Gegenſätze als Autonomie und Bureaukratie, ohne
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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. 403. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/427>, abgerufen am 22.11.2024.
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