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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865.

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Preußen. Das System der örtlichen Selbstverwaltung in Preußen ist, wie
es scheint, mitten in seiner Entwicklung gebrochen, und die Einführung der Prin-
cipien der Stadtgemeindeordnung auf die Landgemeinde einerseits, und die Kreis-
und Provinzialgemeinde andererseits durch Art. 105 der Verfassung von 1850,
und die Gemeindeordnung vom 11. März 1850, vermöge des königlichen Erlasses
vom 19. Juni 1852, der die Einführung derselben sistirte, wieder auf die
Geltung der ständischen Elemente zurückgeworfen. Das preußische System der
örtlichen Selbstverwaltung zeigt uns daher gegenwärtig den früheren Zustand,
der ein großes historisches Interesse hat, und zugleich das Bild Deutschlands
mit seiner ganzen Zerfahrenheit darbietet. Jede Kategorie der örtlichen Selbst-
verwaltung hat darnach ihre eigene Gruppe von Gesetzen, und das preußische
Gemeindewesen ist in der That jetzt wesentlich nur in dem Streben vorhanden,
aus allen diesen verschiedenen Arten zu einer einheitlichen Gemeindeordnung zu
gelangen. Das System, wie es gegenwärtig gilt, ist folgendes:

A. Die Ortsgemeinde. Die Ortsgemeinden zerfallen in Stadt-
gemeinden, Landgemeinden
und Herrschaften, bei denen wieder die
Gutsherrschaften von den Standesherrschaften zu unterscheiden sind,
indem die Landgemeinde in der That nur eine Dorfgemeinde ist, von der die
Herrschaft nicht bloß getrennt, sondern auch mit wesentlich verschiedenen Rechten
begabt erscheint, indem der Gutsherr der Inhaber der niederen, der Standes-
herr noch immer der Inhaber der höheren administrativen Rechte ist; namentlich
hat er das ständische Patronatrecht über Kirchen, Schulen und milde Stiftungen,
was schon an und für sich sowohl die englische Verwaltungsgemeinde, als die
französische Amtsgemeinde unmöglich macht. Die Stadtgemeinden haben nicht
weniger als vier verschiedene Gemeindeordnungen (Gemeindeordnung vom
30. Mai 1853 für die sechs östlichen Provinzen, vom 31. Mai 1853 für die
Städte von Vorpommern und Rügen, vom 19. März 1856 für Westphalen,
vom 15. Mai 1856 für die Rheinprovinz). Die Landgemeinden haben drei
"Verfassungen" (vom 14. April 1856 für die östlichen Provinzen, vom 19. März
1856 für Westphalen, und vom 15. März 1856 für die Rheinprovinz). Für
die Verwaltungsrechte der Standesherrschaften gilt noch immer die Instruktion
vom 30. Mai 1820. Eine wahre unerschöpfliche Quelle für das Studium
der socialen Bewegung und ihrer Erscheinungen in Verfassung und Verwaltung
im Norden Deutschlands, welche durch die folgenden Punkte noch reichhaltiger
gemacht wird! Die Verhältnisse der Grundentlastung und der Herstellung eines
freien Bauernstandes, soweit Preußen überhaupt zu demselben durch Befreiung
des Grundeigenthums hat gelangen können, vortrefflich bei Rönne II, 370.
Man sieht auch hier deutlich, wie der Begriff und das Recht der Landgemeinde
ohne die Verhältnisse der Gutsherrschaft und der bäuerlichen Lasten niemals
ganz klar gemacht werden kann.

B. Die mittleren Organe der örtlichen Selbstverwaltung.
Diese mittleren Organe sind doppelt, sie bestehen aus den sogenannten Com-
munal-Landständen
, und den Kreisständen. Die ersteren sind nur in
einem Theile des Reichs eingeführt; ihre Aufgabe war, diejenigen Verhältnisse
zu berathen, welche nur auf die Communalverhältnisse Bezug haben. Da aber

Preußen. Das Syſtem der örtlichen Selbſtverwaltung in Preußen iſt, wie
es ſcheint, mitten in ſeiner Entwicklung gebrochen, und die Einführung der Prin-
cipien der Stadtgemeindeordnung auf die Landgemeinde einerſeits, und die Kreis-
und Provinzialgemeinde andererſeits durch Art. 105 der Verfaſſung von 1850,
und die Gemeindeordnung vom 11. März 1850, vermöge des königlichen Erlaſſes
vom 19. Juni 1852, der die Einführung derſelben ſiſtirte, wieder auf die
Geltung der ſtändiſchen Elemente zurückgeworfen. Das preußiſche Syſtem der
örtlichen Selbſtverwaltung zeigt uns daher gegenwärtig den früheren Zuſtand,
der ein großes hiſtoriſches Intereſſe hat, und zugleich das Bild Deutſchlands
mit ſeiner ganzen Zerfahrenheit darbietet. Jede Kategorie der örtlichen Selbſt-
verwaltung hat darnach ihre eigene Gruppe von Geſetzen, und das preußiſche
Gemeindeweſen iſt in der That jetzt weſentlich nur in dem Streben vorhanden,
aus allen dieſen verſchiedenen Arten zu einer einheitlichen Gemeindeordnung zu
gelangen. Das Syſtem, wie es gegenwärtig gilt, iſt folgendes:

A. Die Ortsgemeinde. Die Ortsgemeinden zerfallen in Stadt-
gemeinden, Landgemeinden
und Herrſchaften, bei denen wieder die
Gutsherrſchaften von den Standesherrſchaften zu unterſcheiden ſind,
indem die Landgemeinde in der That nur eine Dorfgemeinde iſt, von der die
Herrſchaft nicht bloß getrennt, ſondern auch mit weſentlich verſchiedenen Rechten
begabt erſcheint, indem der Gutsherr der Inhaber der niederen, der Standes-
herr noch immer der Inhaber der höheren adminiſtrativen Rechte iſt; namentlich
hat er das ſtändiſche Patronatrecht über Kirchen, Schulen und milde Stiftungen,
was ſchon an und für ſich ſowohl die engliſche Verwaltungsgemeinde, als die
franzöſiſche Amtsgemeinde unmöglich macht. Die Stadtgemeinden haben nicht
weniger als vier verſchiedene Gemeindeordnungen (Gemeindeordnung vom
30. Mai 1853 für die ſechs öſtlichen Provinzen, vom 31. Mai 1853 für die
Städte von Vorpommern und Rügen, vom 19. März 1856 für Weſtphalen,
vom 15. Mai 1856 für die Rheinprovinz). Die Landgemeinden haben drei
„Verfaſſungen“ (vom 14. April 1856 für die öſtlichen Provinzen, vom 19. März
1856 für Weſtphalen, und vom 15. März 1856 für die Rheinprovinz). Für
die Verwaltungsrechte der Standesherrſchaften gilt noch immer die Inſtruktion
vom 30. Mai 1820. Eine wahre unerſchöpfliche Quelle für das Studium
der ſocialen Bewegung und ihrer Erſcheinungen in Verfaſſung und Verwaltung
im Norden Deutſchlands, welche durch die folgenden Punkte noch reichhaltiger
gemacht wird! Die Verhältniſſe der Grundentlaſtung und der Herſtellung eines
freien Bauernſtandes, ſoweit Preußen überhaupt zu demſelben durch Befreiung
des Grundeigenthums hat gelangen können, vortrefflich bei Rönne II, 370.
Man ſieht auch hier deutlich, wie der Begriff und das Recht der Landgemeinde
ohne die Verhältniſſe der Gutsherrſchaft und der bäuerlichen Laſten niemals
ganz klar gemacht werden kann.

B. Die mittleren Organe der örtlichen Selbſtverwaltung.
Dieſe mittleren Organe ſind doppelt, ſie beſtehen aus den ſogenannten Com-
munal-Landſtänden
, und den Kreisſtänden. Die erſteren ſind nur in
einem Theile des Reichs eingeführt; ihre Aufgabe war, diejenigen Verhältniſſe
zu berathen, welche nur auf die Communalverhältniſſe Bezug haben. Da aber

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[504/0528] Preußen. Das Syſtem der örtlichen Selbſtverwaltung in Preußen iſt, wie es ſcheint, mitten in ſeiner Entwicklung gebrochen, und die Einführung der Prin- cipien der Stadtgemeindeordnung auf die Landgemeinde einerſeits, und die Kreis- und Provinzialgemeinde andererſeits durch Art. 105 der Verfaſſung von 1850, und die Gemeindeordnung vom 11. März 1850, vermöge des königlichen Erlaſſes vom 19. Juni 1852, der die Einführung derſelben ſiſtirte, wieder auf die Geltung der ſtändiſchen Elemente zurückgeworfen. Das preußiſche Syſtem der örtlichen Selbſtverwaltung zeigt uns daher gegenwärtig den früheren Zuſtand, der ein großes hiſtoriſches Intereſſe hat, und zugleich das Bild Deutſchlands mit ſeiner ganzen Zerfahrenheit darbietet. Jede Kategorie der örtlichen Selbſt- verwaltung hat darnach ihre eigene Gruppe von Geſetzen, und das preußiſche Gemeindeweſen iſt in der That jetzt weſentlich nur in dem Streben vorhanden, aus allen dieſen verſchiedenen Arten zu einer einheitlichen Gemeindeordnung zu gelangen. Das Syſtem, wie es gegenwärtig gilt, iſt folgendes: A. Die Ortsgemeinde. Die Ortsgemeinden zerfallen in Stadt- gemeinden, Landgemeinden und Herrſchaften, bei denen wieder die Gutsherrſchaften von den Standesherrſchaften zu unterſcheiden ſind, indem die Landgemeinde in der That nur eine Dorfgemeinde iſt, von der die Herrſchaft nicht bloß getrennt, ſondern auch mit weſentlich verſchiedenen Rechten begabt erſcheint, indem der Gutsherr der Inhaber der niederen, der Standes- herr noch immer der Inhaber der höheren adminiſtrativen Rechte iſt; namentlich hat er das ſtändiſche Patronatrecht über Kirchen, Schulen und milde Stiftungen, was ſchon an und für ſich ſowohl die engliſche Verwaltungsgemeinde, als die franzöſiſche Amtsgemeinde unmöglich macht. Die Stadtgemeinden haben nicht weniger als vier verſchiedene Gemeindeordnungen (Gemeindeordnung vom 30. Mai 1853 für die ſechs öſtlichen Provinzen, vom 31. Mai 1853 für die Städte von Vorpommern und Rügen, vom 19. März 1856 für Weſtphalen, vom 15. Mai 1856 für die Rheinprovinz). Die Landgemeinden haben drei „Verfaſſungen“ (vom 14. April 1856 für die öſtlichen Provinzen, vom 19. März 1856 für Weſtphalen, und vom 15. März 1856 für die Rheinprovinz). Für die Verwaltungsrechte der Standesherrſchaften gilt noch immer die Inſtruktion vom 30. Mai 1820. Eine wahre unerſchöpfliche Quelle für das Studium der ſocialen Bewegung und ihrer Erſcheinungen in Verfaſſung und Verwaltung im Norden Deutſchlands, welche durch die folgenden Punkte noch reichhaltiger gemacht wird! Die Verhältniſſe der Grundentlaſtung und der Herſtellung eines freien Bauernſtandes, ſoweit Preußen überhaupt zu demſelben durch Befreiung des Grundeigenthums hat gelangen können, vortrefflich bei Rönne II, 370. Man ſieht auch hier deutlich, wie der Begriff und das Recht der Landgemeinde ohne die Verhältniſſe der Gutsherrſchaft und der bäuerlichen Laſten niemals ganz klar gemacht werden kann. B. Die mittleren Organe der örtlichen Selbſtverwaltung. Dieſe mittleren Organe ſind doppelt, ſie beſtehen aus den ſogenannten Com- munal-Landſtänden, und den Kreisſtänden. Die erſteren ſind nur in einem Theile des Reichs eingeführt; ihre Aufgabe war, diejenigen Verhältniſſe zu berathen, welche nur auf die Communalverhältniſſe Bezug haben. Da aber

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. 504. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/528>, abgerufen am 22.11.2024.