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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865.

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Mißbrauch dieses Rechts nicht die Bildung der freien Selbstverwaltung
der Staatsbürger gefährde?

Dieß nun sind die beiden Gegensätze, von welchen seit Jahrzehnten
die Frage über das Vereinsrecht ausgeht, und um welche es sich be-
wegt. Hält man sie in der obigen Form ganz einfach neben einander,
so sieht man, daß eigentlich gar keine Vereinigung derselben möglich ist,
sondern jeder Punkt in der einen Auffassung in direktem Widerspruch
mit der anderen steht. Und in der That ist dieser unvermittelte Gegen-
satz so ziemlich der Zustand der allgemeinen Auffassung des Vereins-
wesens. Man verliert das richtige Urtheil so weit, daß man entweder
grundsätzlich den Standpunkt festhält, daß gar keine innerlich geregelte
Vereinigung mehr ohne Erlaubniß der Behörde stattfinden kann, indem
jeder Verein, der "Gesellschaftsregeln" hat, der "Bewilligung" bedarf,
wie im österreichischen Vereinsgesetz von 1852, oder daß man in den
entgegengesetzten Fehler verfällt, und den Grundsatz aufstellt: "Die
Deutschen haben das Recht, Vereine zu bilden. Dieses Recht soll durch
keine vorbeugende Maßregel beschränkt werden" (Reichsverfas-
sung
von 1849; ebenso Oldenburg. Verfassung 1852 §. 51 und
andere; Zöpfl II. §. 294), was natürlich vollständig unausführbar
ist; man denke nur an Aktienvereine. Es nützt auch nicht viel, wenn
man hinzusetzt: "die den Strafgesetzen nicht zuwider laufen" (Preußische
Verfassung 1850, §. 90), oder "der Sittlichkeit" (wie Coburg 1852,
§. 49), wie der Begriff der Aktie zeigt. Noch weniger, wenn man die
Sache ganz umgeht, wie das Handelsgesetzbuch auf seiner Grundlage
gethan. Hier liegt offenbar eine nicht gelöste Frage.

Dieselbe hat nun zu vielem und natürlich sehr lebhaftem Streit
über die sogenannte Staatsgenehmigung der Vereine Anlaß gegeben.
Wir lassen uns auf diesen Streit darum nicht ein, weil wir ihn in der
Weise, wie er geführt wird, für einen durchaus ergebnißlosen halten
müssen. Und den Grund dieser Behauptung wird man sogleich sehen.

Wir müssen nämlich unsererseits von der Ueberzeugung ausgehen,
daß man, ehe man sich über Werth oder Unwerth der Genehmigung
äußert, vor allen Dingen über den Inhalt des Begriffs des öffentlichen
Verfassungsrechts des Vereinswesens einig sein muß. Um das zu können,
muß man aber allerdings davon ausgehen, daß der Verein selbst nur
ein Stadium oder eine ganz bestimmte Form innerhalb des allgemeinen
Begriffs der Vereinigung ist, und man wird zugeben, daß alle Un-
klarheit daher kommt, weil man beständig alle diese Formen als
gleichbedeutend ansieht, während sie, selbst wesentlich verschieden,
auch ein ganz wesentlich verschiedenes Recht für sich erzeugen;
das Vereinsrecht ist daher selbst nur ein ganz bestimmter Theil dieses

Mißbrauch dieſes Rechts nicht die Bildung der freien Selbſtverwaltung
der Staatsbürger gefährde?

Dieß nun ſind die beiden Gegenſätze, von welchen ſeit Jahrzehnten
die Frage über das Vereinsrecht ausgeht, und um welche es ſich be-
wegt. Hält man ſie in der obigen Form ganz einfach neben einander,
ſo ſieht man, daß eigentlich gar keine Vereinigung derſelben möglich iſt,
ſondern jeder Punkt in der einen Auffaſſung in direktem Widerſpruch
mit der anderen ſteht. Und in der That iſt dieſer unvermittelte Gegen-
ſatz ſo ziemlich der Zuſtand der allgemeinen Auffaſſung des Vereins-
weſens. Man verliert das richtige Urtheil ſo weit, daß man entweder
grundſätzlich den Standpunkt feſthält, daß gar keine innerlich geregelte
Vereinigung mehr ohne Erlaubniß der Behörde ſtattfinden kann, indem
jeder Verein, der „Geſellſchaftsregeln“ hat, der „Bewilligung“ bedarf,
wie im öſterreichiſchen Vereinsgeſetz von 1852, oder daß man in den
entgegengeſetzten Fehler verfällt, und den Grundſatz aufſtellt: „Die
Deutſchen haben das Recht, Vereine zu bilden. Dieſes Recht ſoll durch
keine vorbeugende Maßregel beſchränkt werden“ (Reichsverfaſ-
ſung
von 1849; ebenſo Oldenburg. Verfaſſung 1852 §. 51 und
andere; Zöpfl II. §. 294), was natürlich vollſtändig unausführbar
iſt; man denke nur an Aktienvereine. Es nützt auch nicht viel, wenn
man hinzuſetzt: „die den Strafgeſetzen nicht zuwider laufen“ (Preußiſche
Verfaſſung 1850, §. 90), oder „der Sittlichkeit“ (wie Coburg 1852,
§. 49), wie der Begriff der Aktie zeigt. Noch weniger, wenn man die
Sache ganz umgeht, wie das Handelsgeſetzbuch auf ſeiner Grundlage
gethan. Hier liegt offenbar eine nicht gelöste Frage.

Dieſelbe hat nun zu vielem und natürlich ſehr lebhaftem Streit
über die ſogenannte Staatsgenehmigung der Vereine Anlaß gegeben.
Wir laſſen uns auf dieſen Streit darum nicht ein, weil wir ihn in der
Weiſe, wie er geführt wird, für einen durchaus ergebnißloſen halten
müſſen. Und den Grund dieſer Behauptung wird man ſogleich ſehen.

Wir müſſen nämlich unſererſeits von der Ueberzeugung ausgehen,
daß man, ehe man ſich über Werth oder Unwerth der Genehmigung
äußert, vor allen Dingen über den Inhalt des Begriffs des öffentlichen
Verfaſſungsrechts des Vereinsweſens einig ſein muß. Um das zu können,
muß man aber allerdings davon ausgehen, daß der Verein ſelbſt nur
ein Stadium oder eine ganz beſtimmte Form innerhalb des allgemeinen
Begriffs der Vereinigung iſt, und man wird zugeben, daß alle Un-
klarheit daher kommt, weil man beſtändig alle dieſe Formen als
gleichbedeutend anſieht, während ſie, ſelbſt weſentlich verſchieden,
auch ein ganz weſentlich verſchiedenes Recht für ſich erzeugen;
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[619/0643] Mißbrauch dieſes Rechts nicht die Bildung der freien Selbſtverwaltung der Staatsbürger gefährde? Dieß nun ſind die beiden Gegenſätze, von welchen ſeit Jahrzehnten die Frage über das Vereinsrecht ausgeht, und um welche es ſich be- wegt. Hält man ſie in der obigen Form ganz einfach neben einander, ſo ſieht man, daß eigentlich gar keine Vereinigung derſelben möglich iſt, ſondern jeder Punkt in der einen Auffaſſung in direktem Widerſpruch mit der anderen ſteht. Und in der That iſt dieſer unvermittelte Gegen- ſatz ſo ziemlich der Zuſtand der allgemeinen Auffaſſung des Vereins- weſens. Man verliert das richtige Urtheil ſo weit, daß man entweder grundſätzlich den Standpunkt feſthält, daß gar keine innerlich geregelte Vereinigung mehr ohne Erlaubniß der Behörde ſtattfinden kann, indem jeder Verein, der „Geſellſchaftsregeln“ hat, der „Bewilligung“ bedarf, wie im öſterreichiſchen Vereinsgeſetz von 1852, oder daß man in den entgegengeſetzten Fehler verfällt, und den Grundſatz aufſtellt: „Die Deutſchen haben das Recht, Vereine zu bilden. Dieſes Recht ſoll durch keine vorbeugende Maßregel beſchränkt werden“ (Reichsverfaſ- ſung von 1849; ebenſo Oldenburg. Verfaſſung 1852 §. 51 und andere; Zöpfl II. §. 294), was natürlich vollſtändig unausführbar iſt; man denke nur an Aktienvereine. Es nützt auch nicht viel, wenn man hinzuſetzt: „die den Strafgeſetzen nicht zuwider laufen“ (Preußiſche Verfaſſung 1850, §. 90), oder „der Sittlichkeit“ (wie Coburg 1852, §. 49), wie der Begriff der Aktie zeigt. Noch weniger, wenn man die Sache ganz umgeht, wie das Handelsgeſetzbuch auf ſeiner Grundlage gethan. Hier liegt offenbar eine nicht gelöste Frage. Dieſelbe hat nun zu vielem und natürlich ſehr lebhaftem Streit über die ſogenannte Staatsgenehmigung der Vereine Anlaß gegeben. Wir laſſen uns auf dieſen Streit darum nicht ein, weil wir ihn in der Weiſe, wie er geführt wird, für einen durchaus ergebnißloſen halten müſſen. Und den Grund dieſer Behauptung wird man ſogleich ſehen. Wir müſſen nämlich unſererſeits von der Ueberzeugung ausgehen, daß man, ehe man ſich über Werth oder Unwerth der Genehmigung äußert, vor allen Dingen über den Inhalt des Begriffs des öffentlichen Verfaſſungsrechts des Vereinsweſens einig ſein muß. Um das zu können, muß man aber allerdings davon ausgehen, daß der Verein ſelbſt nur ein Stadium oder eine ganz beſtimmte Form innerhalb des allgemeinen Begriffs der Vereinigung iſt, und man wird zugeben, daß alle Un- klarheit daher kommt, weil man beſtändig alle dieſe Formen als gleichbedeutend anſieht, während ſie, ſelbſt weſentlich verſchieden, auch ein ganz weſentlich verſchiedenes Recht für ſich erzeugen; das Vereinsrecht iſt daher ſelbſt nur ein ganz beſtimmter Theil dieſes

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. 619. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/643>, abgerufen am 22.11.2024.