1) Was zuerst das Cölibat betrifft, so muß man bei demselben festhalten, daß es der Ausfluß einer ganz bestimmten Auffassung des Berufes der Geistlichkeit ist, welche zum Wesen der katholischen Kirche, wie sie sich historisch gestaltet hat, gehört. So wenig das Cölibat ein- geführt ist, um die Zunahme der Bevölkerung zu hindern, so wenig wird dasselbe darum aufgehoben werden, weil seine Aufhebung diese Zunahme befördern würde. Hier ist das populationistische Element allerdings vorhanden, aber es bleibt ein ganz untergeordnetes; ganz andere, viel tiefere Motive greifen hier ein, und Montesquieu hat die Sache in L. XXIV und XXV auf ein ganz anderes Feld hinübergeführt. Die populationistische Seite des Cölibats ward jedoch im vorigen Jahrhun- dert vielfach speciell hervorgehoben, wie bei JustiII. 7. §. 246, der das Cölibat bekämpft, weil "die Regierung, um den Ehestand zu befördern -- keine Grundsätze, Meinungen und Neigungen im Staate Wurzel schlagen lassen darf, welche den Ehestand in Verachtung bringen." Der Satz desselben, den er daran anschließt: "Jetzt, da derselbe ein Religionspunkt geworden ist, so ist es unmöglich, daß ein katholischer Regent denselben ohne Religions- änderung ausrotten kann," hat nun sofort die ganze Frage eigentlich aus der Bevölkerungslehre hinausgeschoben; so sehr, daß weder Süß- milch noch Malthus vom Cölibat reden, und die Folgenden es ganz bei Seite liegen lassen. Das Streben, wenigstens die möglichste Vermin- derung dieser berufsmäßigen Ehelosigkeit zu erzwingen, bleibt allerdings und wiederholt sich seit Justi bis auf die Gegenwart; mit Recht haben Rau (Polit. Oekonomie II. Abth. I.) und Mohl (Polizeiwissenschaft I. S. 108 u. a. a. O.) und zuletzt Gerstner (Bevölkerungslehre S. 186) die Frage selbst für die katholischen Länder mit der Vertheilung der Seelsorge in Verbindung gebracht. Daß bei dem Cölibat die Grund- lage der Auffassung je nach der Confession eine wesentlich verschiedene ist und daher auch eine wesentlich verschiedene Behandlung erzeugt, ist natürlich. Die Arbeiten, die über diese Frage veröffentlicht sind, wie namentlich Theiner (Die Einführung der erzwungenen Ehelosigkeit bei den christlichen Geistlichen und ihre Folgen 2 Bde. 1828) und Carove (Ueber Cölibatgesetze, 2 Bde. 1835) zeichnen sich durch eine große Gelehr- samkeit aus; namentlich hat Carove das Verdienst, im zweiten Bande eine "vollständige Sammlung der Cölibatgesetze für die katholischen Welt- geistlichen" und die neuern Gesetzgebungen und Bewegungen auf diesem Ge- biete mit aufgeführt zu haben (Bd. II. S. 611--736). Trotz alledem bleibt der Kern der Sache weder in der bloßen Sittlichkeitsfrage noch in der populationistischen Seite der Sache, sondern liegt offenbar in den Gesichtspunkten, welche der Cardinal-Staatssecretär Pallavicini dem Papst PiusVI. in den über die Aufhebung des Cölibats in den 80er
1) Was zuerſt das Cölibat betrifft, ſo muß man bei demſelben feſthalten, daß es der Ausfluß einer ganz beſtimmten Auffaſſung des Berufes der Geiſtlichkeit iſt, welche zum Weſen der katholiſchen Kirche, wie ſie ſich hiſtoriſch geſtaltet hat, gehört. So wenig das Cölibat ein- geführt iſt, um die Zunahme der Bevölkerung zu hindern, ſo wenig wird daſſelbe darum aufgehoben werden, weil ſeine Aufhebung dieſe Zunahme befördern würde. Hier iſt das populationiſtiſche Element allerdings vorhanden, aber es bleibt ein ganz untergeordnetes; ganz andere, viel tiefere Motive greifen hier ein, und Montesquieu hat die Sache in L. XXIV und XXV auf ein ganz anderes Feld hinübergeführt. Die populationiſtiſche Seite des Cölibats ward jedoch im vorigen Jahrhun- dert vielfach ſpeciell hervorgehoben, wie bei JuſtiII. 7. §. 246, der das Cölibat bekämpft, weil „die Regierung, um den Eheſtand zu befördern — keine Grundſätze, Meinungen und Neigungen im Staate Wurzel ſchlagen laſſen darf, welche den Eheſtand in Verachtung bringen.“ Der Satz deſſelben, den er daran anſchließt: „Jetzt, da derſelbe ein Religionspunkt geworden iſt, ſo iſt es unmöglich, daß ein katholiſcher Regent denſelben ohne Religions- änderung ausrotten kann,“ hat nun ſofort die ganze Frage eigentlich aus der Bevölkerungslehre hinausgeſchoben; ſo ſehr, daß weder Süß- milch noch Malthus vom Cölibat reden, und die Folgenden es ganz bei Seite liegen laſſen. Das Streben, wenigſtens die möglichſte Vermin- derung dieſer berufsmäßigen Eheloſigkeit zu erzwingen, bleibt allerdings und wiederholt ſich ſeit Juſti bis auf die Gegenwart; mit Recht haben Rau (Polit. Oekonomie II. Abth. I.) und Mohl (Polizeiwiſſenſchaft I. S. 108 u. a. a. O.) und zuletzt Gerſtner (Bevölkerungslehre S. 186) die Frage ſelbſt für die katholiſchen Länder mit der Vertheilung der Seelſorge in Verbindung gebracht. Daß bei dem Cölibat die Grund- lage der Auffaſſung je nach der Confeſſion eine weſentlich verſchiedene iſt und daher auch eine weſentlich verſchiedene Behandlung erzeugt, iſt natürlich. Die Arbeiten, die über dieſe Frage veröffentlicht ſind, wie namentlich Theiner (Die Einführung der erzwungenen Eheloſigkeit bei den chriſtlichen Geiſtlichen und ihre Folgen 2 Bde. 1828) und Carové (Ueber Cölibatgeſetze, 2 Bde. 1835) zeichnen ſich durch eine große Gelehr- ſamkeit aus; namentlich hat Carové das Verdienſt, im zweiten Bande eine „vollſtändige Sammlung der Cölibatgeſetze für die katholiſchen Welt- geiſtlichen“ und die neuern Geſetzgebungen und Bewegungen auf dieſem Ge- biete mit aufgeführt zu haben (Bd. II. S. 611—736). Trotz alledem bleibt der Kern der Sache weder in der bloßen Sittlichkeitsfrage noch in der populationiſtiſchen Seite der Sache, ſondern liegt offenbar in den Geſichtspunkten, welche der Cardinal-Staatsſecretär Pallavicini dem Papſt PiusVI. in den über die Aufhebung des Cölibats in den 80er
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1) Was zuerſt das Cölibat betrifft, ſo muß man bei demſelben
feſthalten, daß es der Ausfluß einer ganz beſtimmten Auffaſſung des
Berufes der Geiſtlichkeit iſt, welche zum Weſen der katholiſchen Kirche,
wie ſie ſich hiſtoriſch geſtaltet hat, gehört. So wenig das Cölibat ein-
geführt iſt, um die Zunahme der Bevölkerung zu hindern, ſo wenig
wird daſſelbe darum aufgehoben werden, weil ſeine Aufhebung dieſe
Zunahme befördern würde. Hier iſt das populationiſtiſche Element
allerdings vorhanden, aber es bleibt ein ganz untergeordnetes; ganz
andere, viel tiefere Motive greifen hier ein, und Montesquieu hat
die Sache in L. XXIV und XXV auf ein ganz anderes Feld hinübergeführt.
Die populationiſtiſche Seite des Cölibats ward jedoch im vorigen Jahrhun-
dert vielfach ſpeciell hervorgehoben, wie bei Juſti II. 7. §. 246, der das
Cölibat bekämpft, weil „die Regierung, um den Eheſtand zu befördern —
keine Grundſätze, Meinungen und Neigungen im Staate Wurzel ſchlagen
laſſen darf, welche den Eheſtand in Verachtung bringen.“ Der Satz deſſelben,
den er daran anſchließt: „Jetzt, da derſelbe ein Religionspunkt geworden iſt,
ſo iſt es unmöglich, daß ein katholiſcher Regent denſelben ohne Religions-
änderung ausrotten kann,“ hat nun ſofort die ganze Frage eigentlich
aus der Bevölkerungslehre hinausgeſchoben; ſo ſehr, daß weder Süß-
milch noch Malthus vom Cölibat reden, und die Folgenden es ganz bei
Seite liegen laſſen. Das Streben, wenigſtens die möglichſte Vermin-
derung dieſer berufsmäßigen Eheloſigkeit zu erzwingen, bleibt allerdings
und wiederholt ſich ſeit Juſti bis auf die Gegenwart; mit Recht haben
Rau (Polit. Oekonomie II. Abth. I.) und Mohl (Polizeiwiſſenſchaft I.
S. 108 u. a. a. O.) und zuletzt Gerſtner (Bevölkerungslehre S. 186)
die Frage ſelbſt für die katholiſchen Länder mit der Vertheilung der
Seelſorge in Verbindung gebracht. Daß bei dem Cölibat die Grund-
lage der Auffaſſung je nach der Confeſſion eine weſentlich verſchiedene
iſt und daher auch eine weſentlich verſchiedene Behandlung erzeugt, iſt
natürlich. Die Arbeiten, die über dieſe Frage veröffentlicht ſind, wie
namentlich Theiner (Die Einführung der erzwungenen Eheloſigkeit bei
den chriſtlichen Geiſtlichen und ihre Folgen 2 Bde. 1828) und Carové
(Ueber Cölibatgeſetze, 2 Bde. 1835) zeichnen ſich durch eine große Gelehr-
ſamkeit aus; namentlich hat Carové das Verdienſt, im zweiten Bande
eine „vollſtändige Sammlung der Cölibatgeſetze für die katholiſchen Welt-
geiſtlichen“ und die neuern Geſetzgebungen und Bewegungen auf dieſem Ge-
biete mit aufgeführt zu haben (Bd. II. S. 611—736). Trotz alledem
bleibt der Kern der Sache weder in der bloßen Sittlichkeitsfrage noch
in der populationiſtiſchen Seite der Sache, ſondern liegt offenbar in den
Geſichtspunkten, welche der Cardinal-Staatsſecretär Pallavicini dem
Papſt Pius VI. in den über die Aufhebung des Cölibats in den 80er
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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866, S. 137. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre02_1866/159>, abgerufen am 21.11.2024.
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