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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866.

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gegen leichtsinnige Ehen, und dann das von Malthus zur mathematischen
Formel erhobene Gefühl der Gefährdung der Gesellschaft durch die Kinder
des Proletariats entgegen, und es war, als sich zuerst lokale Uebervölkerungen
zeigten, Gefahr vorhanden, daß die Regierungen aus socialen Gründen das
System der Eheverbote auch in der staatsbürgerlichen Epoche nicht bloß beibe-
halten, sondern auch noch strenger ausbilden würden. In der That wurden
theils in den zwanziger und dreißiger Jahren die gesetzlichen Vorschriften wieder-
holt und verstärkt, welche einen gewissen Vermögensnachweis als Voraussetzung
forderten, wie in Württemberg (1833), Bayern (1828 und 1834), Kurhessen
(1834), theils empfingen oder behielten die Gemeinden die Befugniß, die
Ehen zu verbieten, wobei das Recht, sie wegen "Bescholtenheit" zu untersagen,
nur als eine Form erschien. Die Freiheit der Ehe war daher von dieser Seite
ernstlich bedroht, und hier war es, wo die Wissenschaft sie zum Theil erhalten,
zum Theil wieder erobert hat. Sie bewies nämlich, daß die Gefahr des indu-
striellen Proletariats nicht in der Ehe, sondern in den Kindern liege, und daß
das Verbot der Ehe gegen die Zunahme der unehelichen Geburten nicht nur
nicht schütze, sondern sie vielmehr fördere. Schon Malthus wollte sogar die
Ehe der Armen frei geben, nur sollte ihnen dann die Unterstützung entzogen
werden. (Princ. of Pop. IV. 8. V. 2.) Als ob das letztere möglich wäre!
Die Weinhold'schen Ideen haben nur noch den Werth der Curiosität. Da-
gegen trat die Statistik mit dem entscheidenden Beweise auf, daß im Grunde
die Zahl der Kinder von dem Recht auf Eingehung der Ehe unabhängig ist,
so daß man für die Beschränkung der freien Ehe auch nicht einmal diesen
Ersatz habe. Bei allem Streit hin und wider stellte sich denn doch zuletzt die
entscheidende Wahrheit in den Vordergrund, daß sich das Maß der Bevölkerung
am besten von selbst regle, und daß jedes Eingreifen von Seite der Verwal-
tung diese naturgemäße Regelung nur stören könne. Sehr verständig ist das,
was Rau II. 15, und nach ihm Roscher I. §. 258 darüber sagen. Von der
Malthusischen Formel ist als allgemein anerkannt nur der Satz übrig geblieben,
daß es die Dichtigkeit der Bevölkerung selbst ist, welche ihre Zunahme
hindert. Und mit dieser Ueberzeugung wird dann auch das letzte Motiv eines
polizeilichen Eheverbots, die Furcht vor der Uebervölkerung, definitiv aus der
Verwaltungslehre verschwinden.

II.
Kinderpflege.

Das was wir als Kinderpflege bezeichnen, ist die Sorge der Ver-
waltung für das Leben der geborenen Kinder. Diese Aufgabe tritt erst
mit der polizeilichen Epoche ein. Das Kind gehört der Familie, auch
in der ständischen Ordnung. Erst als das Interesse an der Zahl der
Bevölkerung zum Staatsinteresse wird, erzeugt es die öffentlichen Vor-
schriften, welche die Erhaltung der Kinder bezwecken. Diese Vorschriften

gegen leichtſinnige Ehen, und dann das von Malthus zur mathematiſchen
Formel erhobene Gefühl der Gefährdung der Geſellſchaft durch die Kinder
des Proletariats entgegen, und es war, als ſich zuerſt lokale Uebervölkerungen
zeigten, Gefahr vorhanden, daß die Regierungen aus ſocialen Gründen das
Syſtem der Eheverbote auch in der ſtaatsbürgerlichen Epoche nicht bloß beibe-
halten, ſondern auch noch ſtrenger ausbilden würden. In der That wurden
theils in den zwanziger und dreißiger Jahren die geſetzlichen Vorſchriften wieder-
holt und verſtärkt, welche einen gewiſſen Vermögensnachweis als Vorausſetzung
forderten, wie in Württemberg (1833), Bayern (1828 und 1834), Kurheſſen
(1834), theils empfingen oder behielten die Gemeinden die Befugniß, die
Ehen zu verbieten, wobei das Recht, ſie wegen „Beſcholtenheit“ zu unterſagen,
nur als eine Form erſchien. Die Freiheit der Ehe war daher von dieſer Seite
ernſtlich bedroht, und hier war es, wo die Wiſſenſchaft ſie zum Theil erhalten,
zum Theil wieder erobert hat. Sie bewies nämlich, daß die Gefahr des indu-
ſtriellen Proletariats nicht in der Ehe, ſondern in den Kindern liege, und daß
das Verbot der Ehe gegen die Zunahme der unehelichen Geburten nicht nur
nicht ſchütze, ſondern ſie vielmehr fördere. Schon Malthus wollte ſogar die
Ehe der Armen frei geben, nur ſollte ihnen dann die Unterſtützung entzogen
werden. (Princ. of Pop. IV. 8. V. 2.) Als ob das letztere möglich wäre!
Die Weinhold’ſchen Ideen haben nur noch den Werth der Curioſität. Da-
gegen trat die Statiſtik mit dem entſcheidenden Beweiſe auf, daß im Grunde
die Zahl der Kinder von dem Recht auf Eingehung der Ehe unabhängig iſt,
ſo daß man für die Beſchränkung der freien Ehe auch nicht einmal dieſen
Erſatz habe. Bei allem Streit hin und wider ſtellte ſich denn doch zuletzt die
entſcheidende Wahrheit in den Vordergrund, daß ſich das Maß der Bevölkerung
am beſten von ſelbſt regle, und daß jedes Eingreifen von Seite der Verwal-
tung dieſe naturgemäße Regelung nur ſtören könne. Sehr verſtändig iſt das,
was Rau II. 15, und nach ihm Roſcher I. §. 258 darüber ſagen. Von der
Malthuſiſchen Formel iſt als allgemein anerkannt nur der Satz übrig geblieben,
daß es die Dichtigkeit der Bevölkerung ſelbſt iſt, welche ihre Zunahme
hindert. Und mit dieſer Ueberzeugung wird dann auch das letzte Motiv eines
polizeilichen Eheverbots, die Furcht vor der Uebervölkerung, definitiv aus der
Verwaltungslehre verſchwinden.

II.
Kinderpflege.

Das was wir als Kinderpflege bezeichnen, iſt die Sorge der Ver-
waltung für das Leben der geborenen Kinder. Dieſe Aufgabe tritt erſt
mit der polizeilichen Epoche ein. Das Kind gehört der Familie, auch
in der ſtändiſchen Ordnung. Erſt als das Intereſſe an der Zahl der
Bevölkerung zum Staatsintereſſe wird, erzeugt es die öffentlichen Vor-
ſchriften, welche die Erhaltung der Kinder bezwecken. Dieſe Vorſchriften

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[162/0184] gegen leichtſinnige Ehen, und dann das von Malthus zur mathematiſchen Formel erhobene Gefühl der Gefährdung der Geſellſchaft durch die Kinder des Proletariats entgegen, und es war, als ſich zuerſt lokale Uebervölkerungen zeigten, Gefahr vorhanden, daß die Regierungen aus ſocialen Gründen das Syſtem der Eheverbote auch in der ſtaatsbürgerlichen Epoche nicht bloß beibe- halten, ſondern auch noch ſtrenger ausbilden würden. In der That wurden theils in den zwanziger und dreißiger Jahren die geſetzlichen Vorſchriften wieder- holt und verſtärkt, welche einen gewiſſen Vermögensnachweis als Vorausſetzung forderten, wie in Württemberg (1833), Bayern (1828 und 1834), Kurheſſen (1834), theils empfingen oder behielten die Gemeinden die Befugniß, die Ehen zu verbieten, wobei das Recht, ſie wegen „Beſcholtenheit“ zu unterſagen, nur als eine Form erſchien. Die Freiheit der Ehe war daher von dieſer Seite ernſtlich bedroht, und hier war es, wo die Wiſſenſchaft ſie zum Theil erhalten, zum Theil wieder erobert hat. Sie bewies nämlich, daß die Gefahr des indu- ſtriellen Proletariats nicht in der Ehe, ſondern in den Kindern liege, und daß das Verbot der Ehe gegen die Zunahme der unehelichen Geburten nicht nur nicht ſchütze, ſondern ſie vielmehr fördere. Schon Malthus wollte ſogar die Ehe der Armen frei geben, nur ſollte ihnen dann die Unterſtützung entzogen werden. (Princ. of Pop. IV. 8. V. 2.) Als ob das letztere möglich wäre! Die Weinhold’ſchen Ideen haben nur noch den Werth der Curioſität. Da- gegen trat die Statiſtik mit dem entſcheidenden Beweiſe auf, daß im Grunde die Zahl der Kinder von dem Recht auf Eingehung der Ehe unabhängig iſt, ſo daß man für die Beſchränkung der freien Ehe auch nicht einmal dieſen Erſatz habe. Bei allem Streit hin und wider ſtellte ſich denn doch zuletzt die entſcheidende Wahrheit in den Vordergrund, daß ſich das Maß der Bevölkerung am beſten von ſelbſt regle, und daß jedes Eingreifen von Seite der Verwal- tung dieſe naturgemäße Regelung nur ſtören könne. Sehr verſtändig iſt das, was Rau II. 15, und nach ihm Roſcher I. §. 258 darüber ſagen. Von der Malthuſiſchen Formel iſt als allgemein anerkannt nur der Satz übrig geblieben, daß es die Dichtigkeit der Bevölkerung ſelbſt iſt, welche ihre Zunahme hindert. Und mit dieſer Ueberzeugung wird dann auch das letzte Motiv eines polizeilichen Eheverbots, die Furcht vor der Uebervölkerung, definitiv aus der Verwaltungslehre verſchwinden. II. Kinderpflege. Das was wir als Kinderpflege bezeichnen, iſt die Sorge der Ver- waltung für das Leben der geborenen Kinder. Dieſe Aufgabe tritt erſt mit der polizeilichen Epoche ein. Das Kind gehört der Familie, auch in der ſtändiſchen Ordnung. Erſt als das Intereſſe an der Zahl der Bevölkerung zum Staatsintereſſe wird, erzeugt es die öffentlichen Vor- ſchriften, welche die Erhaltung der Kinder bezwecken. Dieſe Vorſchriften

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866, S. 162. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre02_1866/184>, abgerufen am 21.11.2024.