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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866.

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Wir müssen indeß zum Verständniß desselben eine, der Gesell-
schaftslehre angehörige Bemerkung voraufsenden. In keiner Gesellschafts-
ordnung hat nämlich der Classenunterschied als Unterschied der Besitzenden
und Nichtbesitzenden überhaupt so wenig Gewalt als in der berufs-
mäßigen Ordnung der Gesellschaft. Und zwar darum nicht, weil hier
das geistige Element des Berufes das Ordnende und die Herrschaft
Vertheilende ist, und dieß das wirthschaftliche Element des Besitzes theils
geradezu unterdrückt, indem es den Besitz und das Einkommen durch
die berufsmäßige Thätigkeit regelt, andererseits weil das Bewußtsein
der Erfüllung seines Berufes den Menschen fast allein unter allen
irdischen Dingen über das Gefühl der Unterordnung, das im Mangel
an Besitz und Einkommen liegt, erhebt. Darin liegt der große Segen
desjenigen, was wir als das ständische Element im edleren Sinne des
Wortes anerkennen, und wir möchten gleich hier hinzufügen, daß der
wahre und durchgreifende Unterschied zwischen dem europäischen und
amerikanischen Leben darin im Wesentlichen zu bestehen scheint, daß die
europäische Welt noch die geistige Fähigkeit sich erhalten hat, in der
Erfüllung des Berufes die Erfüllung der Bestimmung der Persönlichkeit
zu suchen, die in der nordamerikanischen ohne Erwerb und Besitz gar
nicht gewonnen werden kann. Und dieß bessere ständische Element hat
sich in Europa bis auf unsere Zeit erhalten, und Gott gebe, daß es
sich ewig erhalten möge, um jener kläglichen Reducirung des mensch-
lichen Werthes auf Capital und Zinsen entgegen zu treten, die die
Signatur der gesellschaftlichen Zustände Amerikas bildet! -- Jedenfalls
erklärt uns diese große organische Thatsache, weßhalb wir in der stän-
dischen Gesellschaft einer ganz andern Gestalt der Auswanderung be-
gegnen, als in der Geschlechterordnung. Auch hier sehen wir die beiden
Grundformen derselben, die Einzelauswanderung und die Massenaus-
wanderung, die selbst zur Colonisation wird. Allein beide haben einen
andern Charakter. Die Einzelauswanderung geschieht hier meistens
auf Grundlage des Lebensberufes, und ist ein Versuch, in einem
andern Lande vermöge des Berufes sich eine Stellung zu gewinnen.
Sie hängt daher gar nicht mehr mit Uebervölkerung und Nichtbesitz
ganzer Classen zusammen, und sucht daher auch nicht gerade Länder
mit dünner, sondern oft geradezu mit dichter Bevölkerung; denn es ist
der Werth, den die Ausübung des Berufes hat, der hier entscheidet.
So sehen wir Geistliche, Krieger, Aerzte, Gelehrte auswandern, um
durch ihren Beruf sich eine neue Heimath zu gründen; und so tritt
auch hier zum erstenmale die Erscheinung auf, die wir die Berufung
nennen -- die Aufforderung zur Auswanderung von Seiten fremder
Staaten, die noch gegenwärtig bekanntlich existirt. Andererseits hat

Wir müſſen indeß zum Verſtändniß deſſelben eine, der Geſell-
ſchaftslehre angehörige Bemerkung voraufſenden. In keiner Geſellſchafts-
ordnung hat nämlich der Claſſenunterſchied als Unterſchied der Beſitzenden
und Nichtbeſitzenden überhaupt ſo wenig Gewalt als in der berufs-
mäßigen Ordnung der Geſellſchaft. Und zwar darum nicht, weil hier
das geiſtige Element des Berufes das Ordnende und die Herrſchaft
Vertheilende iſt, und dieß das wirthſchaftliche Element des Beſitzes theils
geradezu unterdrückt, indem es den Beſitz und das Einkommen durch
die berufsmäßige Thätigkeit regelt, andererſeits weil das Bewußtſein
der Erfüllung ſeines Berufes den Menſchen faſt allein unter allen
irdiſchen Dingen über das Gefühl der Unterordnung, das im Mangel
an Beſitz und Einkommen liegt, erhebt. Darin liegt der große Segen
desjenigen, was wir als das ſtändiſche Element im edleren Sinne des
Wortes anerkennen, und wir möchten gleich hier hinzufügen, daß der
wahre und durchgreifende Unterſchied zwiſchen dem europäiſchen und
amerikaniſchen Leben darin im Weſentlichen zu beſtehen ſcheint, daß die
europäiſche Welt noch die geiſtige Fähigkeit ſich erhalten hat, in der
Erfüllung des Berufes die Erfüllung der Beſtimmung der Perſönlichkeit
zu ſuchen, die in der nordamerikaniſchen ohne Erwerb und Beſitz gar
nicht gewonnen werden kann. Und dieß beſſere ſtändiſche Element hat
ſich in Europa bis auf unſere Zeit erhalten, und Gott gebe, daß es
ſich ewig erhalten möge, um jener kläglichen Reducirung des menſch-
lichen Werthes auf Capital und Zinſen entgegen zu treten, die die
Signatur der geſellſchaftlichen Zuſtände Amerikas bildet! — Jedenfalls
erklärt uns dieſe große organiſche Thatſache, weßhalb wir in der ſtän-
diſchen Geſellſchaft einer ganz andern Geſtalt der Auswanderung be-
gegnen, als in der Geſchlechterordnung. Auch hier ſehen wir die beiden
Grundformen derſelben, die Einzelauswanderung und die Maſſenaus-
wanderung, die ſelbſt zur Coloniſation wird. Allein beide haben einen
andern Charakter. Die Einzelauswanderung geſchieht hier meiſtens
auf Grundlage des Lebensberufes, und iſt ein Verſuch, in einem
andern Lande vermöge des Berufes ſich eine Stellung zu gewinnen.
Sie hängt daher gar nicht mehr mit Uebervölkerung und Nichtbeſitz
ganzer Claſſen zuſammen, und ſucht daher auch nicht gerade Länder
mit dünner, ſondern oft geradezu mit dichter Bevölkerung; denn es iſt
der Werth, den die Ausübung des Berufes hat, der hier entſcheidet.
So ſehen wir Geiſtliche, Krieger, Aerzte, Gelehrte auswandern, um
durch ihren Beruf ſich eine neue Heimath zu gründen; und ſo tritt
auch hier zum erſtenmale die Erſcheinung auf, die wir die Berufung
nennen — die Aufforderung zur Auswanderung von Seiten fremder
Staaten, die noch gegenwärtig bekanntlich exiſtirt. Andererſeits hat

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[189/0211] Wir müſſen indeß zum Verſtändniß deſſelben eine, der Geſell- ſchaftslehre angehörige Bemerkung voraufſenden. In keiner Geſellſchafts- ordnung hat nämlich der Claſſenunterſchied als Unterſchied der Beſitzenden und Nichtbeſitzenden überhaupt ſo wenig Gewalt als in der berufs- mäßigen Ordnung der Geſellſchaft. Und zwar darum nicht, weil hier das geiſtige Element des Berufes das Ordnende und die Herrſchaft Vertheilende iſt, und dieß das wirthſchaftliche Element des Beſitzes theils geradezu unterdrückt, indem es den Beſitz und das Einkommen durch die berufsmäßige Thätigkeit regelt, andererſeits weil das Bewußtſein der Erfüllung ſeines Berufes den Menſchen faſt allein unter allen irdiſchen Dingen über das Gefühl der Unterordnung, das im Mangel an Beſitz und Einkommen liegt, erhebt. Darin liegt der große Segen desjenigen, was wir als das ſtändiſche Element im edleren Sinne des Wortes anerkennen, und wir möchten gleich hier hinzufügen, daß der wahre und durchgreifende Unterſchied zwiſchen dem europäiſchen und amerikaniſchen Leben darin im Weſentlichen zu beſtehen ſcheint, daß die europäiſche Welt noch die geiſtige Fähigkeit ſich erhalten hat, in der Erfüllung des Berufes die Erfüllung der Beſtimmung der Perſönlichkeit zu ſuchen, die in der nordamerikaniſchen ohne Erwerb und Beſitz gar nicht gewonnen werden kann. Und dieß beſſere ſtändiſche Element hat ſich in Europa bis auf unſere Zeit erhalten, und Gott gebe, daß es ſich ewig erhalten möge, um jener kläglichen Reducirung des menſch- lichen Werthes auf Capital und Zinſen entgegen zu treten, die die Signatur der geſellſchaftlichen Zuſtände Amerikas bildet! — Jedenfalls erklärt uns dieſe große organiſche Thatſache, weßhalb wir in der ſtän- diſchen Geſellſchaft einer ganz andern Geſtalt der Auswanderung be- gegnen, als in der Geſchlechterordnung. Auch hier ſehen wir die beiden Grundformen derſelben, die Einzelauswanderung und die Maſſenaus- wanderung, die ſelbſt zur Coloniſation wird. Allein beide haben einen andern Charakter. Die Einzelauswanderung geſchieht hier meiſtens auf Grundlage des Lebensberufes, und iſt ein Verſuch, in einem andern Lande vermöge des Berufes ſich eine Stellung zu gewinnen. Sie hängt daher gar nicht mehr mit Uebervölkerung und Nichtbeſitz ganzer Claſſen zuſammen, und ſucht daher auch nicht gerade Länder mit dünner, ſondern oft geradezu mit dichter Bevölkerung; denn es iſt der Werth, den die Ausübung des Berufes hat, der hier entſcheidet. So ſehen wir Geiſtliche, Krieger, Aerzte, Gelehrte auswandern, um durch ihren Beruf ſich eine neue Heimath zu gründen; und ſo tritt auch hier zum erſtenmale die Erſcheinung auf, die wir die Berufung nennen — die Aufforderung zur Auswanderung von Seiten fremder Staaten, die noch gegenwärtig bekanntlich exiſtirt. Andererſeits hat

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866, S. 189. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre02_1866/211>, abgerufen am 23.11.2024.