Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866.

Bild:
<< vorherige Seite

Auf Grundlage solcher einzelnen tabellarischen Standesregister
wagt nun Süßmilch zuerst, eine wissenschaftliche Schätzung der Be-
völkerung für die ganze Welt, speciell für die einzelnen Länder von
Europa vorzuschlagen (Göttliche Ordnung Cap. XX), und es darf uns
billig wundern, daß selbst Mohl die große Leistung des Deutschen neben
der fremden, aber denn doch nicht größern von Malthus so selten gehörig
erkannt hat. Wir wenigstens kennen gar kein europäisches Werk, das
sich in dieser Beziehung Süßmilch an die Seite stellen könnte, und
Malthus wenigstens scheint ihn höher zu achten, als seine eigenen Lands-
leute. Doch müssen wir hier bei Gerstner eine rühmliche Ausnahme
machen. Wie Gerstner überhaupt wohl die geschmackvollste und beste
Darstellung der Bevölkerungsphysiologie gegeben und sie mit richtigem
Takte von der Bevölkerungsverwaltung getrennt hat, so ist er auch
eigentlich der erste, der die Tiefe der Süßmilch'schen Auffassung, von
dem die meisten nur die Tabellen kennen, wieder zur Würdigung gebracht
hat. Nur hat er das Verhältniß Süßmilchs zur Zählungsfrage über-
sehen. Denn freilich konnte man zu einer Zählung oder auch nur
zu einer Sicherheit der Annahmen auch auf dem Wege Süßmilchs nicht
gelangen; obwohl die Verwaltungen mit jedem Jahre mehr erkannten,
von welcher Wichtigkeit die Feststellung der Volkszahl sein müsse. Be-
zeichnend ist in dieser Hinsicht, was Necker über die sog. Volkszählung
vom Jahre 1784 in Frankreich sagt (Administr. des Finances I. 202):
"Es war nicht leicht, in einem so großen Lande allgemeine Zählungen
zu veranstalten. Nachdem man an mehreren Orten partielle Zäh-
lungen
angeordnet hatte (wie und nach welchen Rubriken sagt er
nicht -- wahrscheinlich einfache Kopfzählungen), hat man diese Ergeb-
nisse mit der Anzahl von Geburten, Todesfällen und Heirathen ver-
glichen (man sieht den Einfluß, den die Methode Süßmilchs, des
Quetelets des vorigen Jahrhunderts, auch in Frankreich hatte) und unter
Zuratheziehung der in andern Ländern gemachten Erfahrungen einen
Maßstab ermittelt, auf den man sich verlassen kann." (Man multi-
plicirte die Zahl der aus den Standesregistern entnommenen Geburten
mit 25,75. Soetbeer Anhang zur Uebersetzung von Mill, Politische
Oekonomie II. S. 530.) Warum Mohl weder die oben citirten englischen
und französischen noch die deutschen Arbeiten in seinen sehr kurzen Mit-
theilungen über die Schätzungen berücksichtigt, und namentlich die syste-
matische Schätzung von Süßmilch, von allen die bedeutendste, weg-
gelassen hat, ist nicht zu erklären. Aber jedenfalls stimmen wir mit
ihm überein, daß alle diese Versuche keinen entsprechenden Werth haben
konnten. Es war, möchten wir sagen, der Beweis geliefert, daß die
gründlichste Wissenschaft nicht ausreiche, die Function der administrativen

Auf Grundlage ſolcher einzelnen tabellariſchen Standesregiſter
wagt nun Süßmilch zuerſt, eine wiſſenſchaftliche Schätzung der Be-
völkerung für die ganze Welt, ſpeciell für die einzelnen Länder von
Europa vorzuſchlagen (Göttliche Ordnung Cap. XX), und es darf uns
billig wundern, daß ſelbſt Mohl die große Leiſtung des Deutſchen neben
der fremden, aber denn doch nicht größern von Malthus ſo ſelten gehörig
erkannt hat. Wir wenigſtens kennen gar kein europäiſches Werk, das
ſich in dieſer Beziehung Süßmilch an die Seite ſtellen könnte, und
Malthus wenigſtens ſcheint ihn höher zu achten, als ſeine eigenen Lands-
leute. Doch müſſen wir hier bei Gerſtner eine rühmliche Ausnahme
machen. Wie Gerſtner überhaupt wohl die geſchmackvollſte und beſte
Darſtellung der Bevölkerungsphyſiologie gegeben und ſie mit richtigem
Takte von der Bevölkerungsverwaltung getrennt hat, ſo iſt er auch
eigentlich der erſte, der die Tiefe der Süßmilch’ſchen Auffaſſung, von
dem die meiſten nur die Tabellen kennen, wieder zur Würdigung gebracht
hat. Nur hat er das Verhältniß Süßmilchs zur Zählungsfrage über-
ſehen. Denn freilich konnte man zu einer Zählung oder auch nur
zu einer Sicherheit der Annahmen auch auf dem Wege Süßmilchs nicht
gelangen; obwohl die Verwaltungen mit jedem Jahre mehr erkannten,
von welcher Wichtigkeit die Feſtſtellung der Volkszahl ſein müſſe. Be-
zeichnend iſt in dieſer Hinſicht, was Necker über die ſog. Volkszählung
vom Jahre 1784 in Frankreich ſagt (Administr. des Finances I. 202):
„Es war nicht leicht, in einem ſo großen Lande allgemeine Zählungen
zu veranſtalten. Nachdem man an mehreren Orten partielle Zäh-
lungen
angeordnet hatte (wie und nach welchen Rubriken ſagt er
nicht — wahrſcheinlich einfache Kopfzählungen), hat man dieſe Ergeb-
niſſe mit der Anzahl von Geburten, Todesfällen und Heirathen ver-
glichen (man ſieht den Einfluß, den die Methode Süßmilchs, des
Quetelets des vorigen Jahrhunderts, auch in Frankreich hatte) und unter
Zuratheziehung der in andern Ländern gemachten Erfahrungen einen
Maßſtab ermittelt, auf den man ſich verlaſſen kann.“ (Man multi-
plicirte die Zahl der aus den Standesregiſtern entnommenen Geburten
mit 25,75. Soetbeer Anhang zur Ueberſetzung von Mill, Politiſche
Oekonomie II. S. 530.) Warum Mohl weder die oben citirten engliſchen
und franzöſiſchen noch die deutſchen Arbeiten in ſeinen ſehr kurzen Mit-
theilungen über die Schätzungen berückſichtigt, und namentlich die ſyſte-
matiſche Schätzung von Süßmilch, von allen die bedeutendſte, weg-
gelaſſen hat, iſt nicht zu erklären. Aber jedenfalls ſtimmen wir mit
ihm überein, daß alle dieſe Verſuche keinen entſprechenden Werth haben
konnten. Es war, möchten wir ſagen, der Beweis geliefert, daß die
gründlichſte Wiſſenſchaft nicht ausreiche, die Function der adminiſtrativen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <div n="7">
                    <pb facs="#f0241" n="219"/>
                    <p>Auf Grundlage &#x017F;olcher einzelnen tabellari&#x017F;chen Standesregi&#x017F;ter<lb/>
wagt nun Süßmilch <hi rendition="#g">zuer&#x017F;t</hi>, eine wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftliche Schätzung der Be-<lb/>
völkerung für die ganze Welt, &#x017F;peciell für die einzelnen Länder von<lb/>
Europa vorzu&#x017F;chlagen (Göttliche Ordnung Cap. <hi rendition="#aq">XX</hi>), und es darf uns<lb/>
billig wundern, daß &#x017F;elb&#x017F;t <hi rendition="#g">Mohl</hi> die große Lei&#x017F;tung des Deut&#x017F;chen neben<lb/>
der fremden, aber denn doch <hi rendition="#g">nicht</hi> größern von Malthus &#x017F;o &#x017F;elten gehörig<lb/>
erkannt hat. Wir wenig&#x017F;tens kennen <hi rendition="#g">gar kein</hi> europäi&#x017F;ches Werk, das<lb/>
&#x017F;ich in die&#x017F;er Beziehung Süßmilch an die Seite &#x017F;tellen könnte, und<lb/>
Malthus wenig&#x017F;tens &#x017F;cheint ihn höher zu achten, als &#x017F;eine eigenen Lands-<lb/>
leute. Doch mü&#x017F;&#x017F;en wir hier bei <hi rendition="#g">Ger&#x017F;tner</hi> eine rühmliche Ausnahme<lb/>
machen. Wie Ger&#x017F;tner überhaupt wohl die ge&#x017F;chmackvoll&#x017F;te und be&#x017F;te<lb/>
Dar&#x017F;tellung der Bevölkerungsphy&#x017F;iologie gegeben und &#x017F;ie mit richtigem<lb/>
Takte von der Bevölkerungsverwaltung getrennt hat, &#x017F;o i&#x017F;t er auch<lb/>
eigentlich der er&#x017F;te, der die Tiefe der Süßmilch&#x2019;&#x017F;chen Auffa&#x017F;&#x017F;ung, von<lb/>
dem die mei&#x017F;ten nur die Tabellen kennen, wieder zur Würdigung gebracht<lb/>
hat. Nur hat er das Verhältniß Süßmilchs zur Zählungsfrage über-<lb/>
&#x017F;ehen. Denn freilich konnte man zu einer <hi rendition="#g">Zählung</hi> oder auch nur<lb/>
zu einer Sicherheit der Annahmen auch auf dem Wege Süßmilchs nicht<lb/>
gelangen; obwohl die Verwaltungen mit jedem Jahre mehr erkannten,<lb/>
von welcher Wichtigkeit die Fe&#x017F;t&#x017F;tellung der Volkszahl &#x017F;ein mü&#x017F;&#x017F;e. Be-<lb/>
zeichnend i&#x017F;t in die&#x017F;er Hin&#x017F;icht, was <hi rendition="#g">Necker</hi> über die &#x017F;og. Volkszählung<lb/>
vom Jahre 1784 in Frankreich &#x017F;agt <hi rendition="#aq">(Administr. des Finances I. 202):</hi><lb/>
&#x201E;Es war nicht leicht, in einem &#x017F;o großen Lande allgemeine Zählungen<lb/>
zu veran&#x017F;talten. Nachdem man an mehreren Orten <hi rendition="#g">partielle Zäh-<lb/>
lungen</hi> angeordnet hatte (wie und nach welchen Rubriken &#x017F;agt er<lb/>
nicht &#x2014; wahr&#x017F;cheinlich einfache Kopfzählungen), hat man die&#x017F;e Ergeb-<lb/>
ni&#x017F;&#x017F;e mit der Anzahl von Geburten, Todesfällen und Heirathen ver-<lb/>
glichen (man &#x017F;ieht den Einfluß, den die Methode Süßmilchs, des<lb/>
Quetelets des vorigen Jahrhunderts, auch in Frankreich hatte) und unter<lb/>
Zuratheziehung der in andern Ländern gemachten Erfahrungen einen<lb/><hi rendition="#g">Maß&#x017F;tab</hi> ermittelt, auf den man &#x017F;ich verla&#x017F;&#x017F;en kann.&#x201C; (Man multi-<lb/>
plicirte die Zahl der aus den Standesregi&#x017F;tern entnommenen Geburten<lb/>
mit 25,75. <hi rendition="#g">Soetbeer</hi> Anhang zur Ueber&#x017F;etzung von <hi rendition="#g">Mill</hi>, Politi&#x017F;che<lb/>
Oekonomie <hi rendition="#aq">II.</hi> S. 530.) Warum <hi rendition="#g">Mohl</hi> weder die oben citirten engli&#x017F;chen<lb/>
und franzö&#x017F;i&#x017F;chen noch die deut&#x017F;chen Arbeiten in &#x017F;einen <hi rendition="#g">&#x017F;ehr</hi> kurzen Mit-<lb/>
theilungen über die Schätzungen berück&#x017F;ichtigt, und namentlich die &#x017F;y&#x017F;te-<lb/>
mati&#x017F;che Schätzung von Süßmilch, von allen die bedeutend&#x017F;te, weg-<lb/>
gela&#x017F;&#x017F;en hat, i&#x017F;t nicht zu erklären. Aber jedenfalls &#x017F;timmen wir mit<lb/>
ihm überein, daß alle die&#x017F;e Ver&#x017F;uche keinen ent&#x017F;prechenden Werth haben<lb/>
konnten. Es war, möchten wir &#x017F;agen, der Beweis geliefert, daß die<lb/>
gründlich&#x017F;te Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft <hi rendition="#g">nicht</hi> ausreiche, die Function der admini&#x017F;trativen<lb/></p>
                  </div>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[219/0241] Auf Grundlage ſolcher einzelnen tabellariſchen Standesregiſter wagt nun Süßmilch zuerſt, eine wiſſenſchaftliche Schätzung der Be- völkerung für die ganze Welt, ſpeciell für die einzelnen Länder von Europa vorzuſchlagen (Göttliche Ordnung Cap. XX), und es darf uns billig wundern, daß ſelbſt Mohl die große Leiſtung des Deutſchen neben der fremden, aber denn doch nicht größern von Malthus ſo ſelten gehörig erkannt hat. Wir wenigſtens kennen gar kein europäiſches Werk, das ſich in dieſer Beziehung Süßmilch an die Seite ſtellen könnte, und Malthus wenigſtens ſcheint ihn höher zu achten, als ſeine eigenen Lands- leute. Doch müſſen wir hier bei Gerſtner eine rühmliche Ausnahme machen. Wie Gerſtner überhaupt wohl die geſchmackvollſte und beſte Darſtellung der Bevölkerungsphyſiologie gegeben und ſie mit richtigem Takte von der Bevölkerungsverwaltung getrennt hat, ſo iſt er auch eigentlich der erſte, der die Tiefe der Süßmilch’ſchen Auffaſſung, von dem die meiſten nur die Tabellen kennen, wieder zur Würdigung gebracht hat. Nur hat er das Verhältniß Süßmilchs zur Zählungsfrage über- ſehen. Denn freilich konnte man zu einer Zählung oder auch nur zu einer Sicherheit der Annahmen auch auf dem Wege Süßmilchs nicht gelangen; obwohl die Verwaltungen mit jedem Jahre mehr erkannten, von welcher Wichtigkeit die Feſtſtellung der Volkszahl ſein müſſe. Be- zeichnend iſt in dieſer Hinſicht, was Necker über die ſog. Volkszählung vom Jahre 1784 in Frankreich ſagt (Administr. des Finances I. 202): „Es war nicht leicht, in einem ſo großen Lande allgemeine Zählungen zu veranſtalten. Nachdem man an mehreren Orten partielle Zäh- lungen angeordnet hatte (wie und nach welchen Rubriken ſagt er nicht — wahrſcheinlich einfache Kopfzählungen), hat man dieſe Ergeb- niſſe mit der Anzahl von Geburten, Todesfällen und Heirathen ver- glichen (man ſieht den Einfluß, den die Methode Süßmilchs, des Quetelets des vorigen Jahrhunderts, auch in Frankreich hatte) und unter Zuratheziehung der in andern Ländern gemachten Erfahrungen einen Maßſtab ermittelt, auf den man ſich verlaſſen kann.“ (Man multi- plicirte die Zahl der aus den Standesregiſtern entnommenen Geburten mit 25,75. Soetbeer Anhang zur Ueberſetzung von Mill, Politiſche Oekonomie II. S. 530.) Warum Mohl weder die oben citirten engliſchen und franzöſiſchen noch die deutſchen Arbeiten in ſeinen ſehr kurzen Mit- theilungen über die Schätzungen berückſichtigt, und namentlich die ſyſte- matiſche Schätzung von Süßmilch, von allen die bedeutendſte, weg- gelaſſen hat, iſt nicht zu erklären. Aber jedenfalls ſtimmen wir mit ihm überein, daß alle dieſe Verſuche keinen entſprechenden Werth haben konnten. Es war, möchten wir ſagen, der Beweis geliefert, daß die gründlichſte Wiſſenſchaft nicht ausreiche, die Function der adminiſtrativen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre02_1866
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre02_1866/241
Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866, S. 219. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre02_1866/241>, abgerufen am 23.11.2024.