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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866.

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Diese Frage ist nicht bloß für die Theorie, sondern auch für die
Praxis von Wichtigkeit. Denn gehen Paß- und Fremdenwesen nicht
aus der höheren und dauernden Natur der Verwaltung hervor, so muß
die Wissenschaft darnach streben, sie auf alle Weise zu bekämpfen. Sind
sie aber in irgend einer Form durch diese Natur der Verwaltung be-
gründet, so kann es uns wiederum nicht genügen, bloß das bestehende
Recht anzugeben, sondern wir müssen alsdann nach den Elementen
suchen, welche durch die Verbindung der individuellen Freiheit mit der
Vertretung des Gesammtinteresses diesem Theile der Verwaltung seine
definitive organische Gestalt zu geben bestimmt sind.

Die außerordentliche Verschiedenheit -- denn es gibt vielleicht
keinen Theil der ganzen Verwaltung, in welchem principiell und
formell ein so großer Unterschied zwischen den Staaten Europas bestände,
als im Paß- und Fremdenwesen -- die hier herrscht, zeigt, daß weder
Theorie noch Praxis über jene Fragen zu einem Abschluß gelangt sind.
Und doch ist bekanntlich der Gegenstand selbst keinesweges ohne Wichtig-
keit. Sein Einfluß ist groß, nicht bloß auf gewisse materielle Interessen,
sondern eben so sehr auf die physischen Faktoren des Staatslebens, auf
die Vorstellungen, welche sich im Volke von den Ansichten der Regie-
rungen selbst über das Maß der individuellen Freiheit bilden. Und
wie wir sehen werden, mit Recht. Denn Paß- und Fremdenwesen sind
wirklich nicht unbedeutsame Maßstäbe für den allgemeinen Standpunkt
der Regierungen in dieser Beziehung, und daher wohl einer Beachtung
werth, die sie aus einer Reihe von Gründen bisher nicht gefunden
haben.

Wir wollen daher den Versuch machen, das organische Verhältniß
derselben darzulegen, ehe wir zum positiven Recht übergehen.

Bei dem Paß- und Fremdenwesen begegnen wir dem, in der Verwaltungs-
lehre nicht ganz seltenen Verhältniß in hohem Grade, daß bei einer sehr reich-
haltigen Gesetzgebung so gut als gar keine Literatur und wissenschaftliche Be-
handlung existirt. Der allgemeine Grund dieser Erscheinung liegt wohl darin,
daß man in den gesetzlichen Bestimmungen nur Vorschriften der vollziehenden
Sicherheitspolizei sah, für die sich eben kein wissenschaftliches System aufstellen
lasse, während man anderseits die Frage überhaupt nicht stellte, ob Paß- und
Fremdenwesen an sich überhaupt einer wissenschaftlichen Behandlung fähig seien.
Daraus erklärt es sich wohl zunächst, daß die Werke über Polizeiwissenschaft des
vorigen Jahrhunderts, wie Justi und Sonnenfels, und eben so wenig die spä-
tern, wie Jacobs, von demselben überhaupt nicht reden. Aber selbst die Dar-
stellungen des positiven Polizeirechts sind sich, wie es scheint, nicht einig, ob
sie es aufnehmen sollen; während Berg es behandelt, hat Fischer es wieder
trotz seiner sonst minutiösen Vollständigkeit weggelassen. Auch die neuere Zeit
ist nicht besser daran. Als die alte Polizeiwissenschaft namentlich durch Adam

Dieſe Frage iſt nicht bloß für die Theorie, ſondern auch für die
Praxis von Wichtigkeit. Denn gehen Paß- und Fremdenweſen nicht
aus der höheren und dauernden Natur der Verwaltung hervor, ſo muß
die Wiſſenſchaft darnach ſtreben, ſie auf alle Weiſe zu bekämpfen. Sind
ſie aber in irgend einer Form durch dieſe Natur der Verwaltung be-
gründet, ſo kann es uns wiederum nicht genügen, bloß das beſtehende
Recht anzugeben, ſondern wir müſſen alsdann nach den Elementen
ſuchen, welche durch die Verbindung der individuellen Freiheit mit der
Vertretung des Geſammtintereſſes dieſem Theile der Verwaltung ſeine
definitive organiſche Geſtalt zu geben beſtimmt ſind.

Die außerordentliche Verſchiedenheit — denn es gibt vielleicht
keinen Theil der ganzen Verwaltung, in welchem principiell und
formell ein ſo großer Unterſchied zwiſchen den Staaten Europas beſtände,
als im Paß- und Fremdenweſen — die hier herrſcht, zeigt, daß weder
Theorie noch Praxis über jene Fragen zu einem Abſchluß gelangt ſind.
Und doch iſt bekanntlich der Gegenſtand ſelbſt keinesweges ohne Wichtig-
keit. Sein Einfluß iſt groß, nicht bloß auf gewiſſe materielle Intereſſen,
ſondern eben ſo ſehr auf die phyſiſchen Faktoren des Staatslebens, auf
die Vorſtellungen, welche ſich im Volke von den Anſichten der Regie-
rungen ſelbſt über das Maß der individuellen Freiheit bilden. Und
wie wir ſehen werden, mit Recht. Denn Paß- und Fremdenweſen ſind
wirklich nicht unbedeutſame Maßſtäbe für den allgemeinen Standpunkt
der Regierungen in dieſer Beziehung, und daher wohl einer Beachtung
werth, die ſie aus einer Reihe von Gründen bisher nicht gefunden
haben.

Wir wollen daher den Verſuch machen, das organiſche Verhältniß
derſelben darzulegen, ehe wir zum poſitiven Recht übergehen.

Bei dem Paß- und Fremdenweſen begegnen wir dem, in der Verwaltungs-
lehre nicht ganz ſeltenen Verhältniß in hohem Grade, daß bei einer ſehr reich-
haltigen Geſetzgebung ſo gut als gar keine Literatur und wiſſenſchaftliche Be-
handlung exiſtirt. Der allgemeine Grund dieſer Erſcheinung liegt wohl darin,
daß man in den geſetzlichen Beſtimmungen nur Vorſchriften der vollziehenden
Sicherheitspolizei ſah, für die ſich eben kein wiſſenſchaftliches Syſtem aufſtellen
laſſe, während man anderſeits die Frage überhaupt nicht ſtellte, ob Paß- und
Fremdenweſen an ſich überhaupt einer wiſſenſchaftlichen Behandlung fähig ſeien.
Daraus erklärt es ſich wohl zunächſt, daß die Werke über Polizeiwiſſenſchaft des
vorigen Jahrhunderts, wie Juſti und Sonnenfels, und eben ſo wenig die ſpä-
tern, wie Jacobs, von demſelben überhaupt nicht reden. Aber ſelbſt die Dar-
ſtellungen des poſitiven Polizeirechts ſind ſich, wie es ſcheint, nicht einig, ob
ſie es aufnehmen ſollen; während Berg es behandelt, hat Fiſcher es wieder
trotz ſeiner ſonſt minutiöſen Vollſtändigkeit weggelaſſen. Auch die neuere Zeit
iſt nicht beſſer daran. Als die alte Polizeiwiſſenſchaft namentlich durch Adam

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[246/0268] Dieſe Frage iſt nicht bloß für die Theorie, ſondern auch für die Praxis von Wichtigkeit. Denn gehen Paß- und Fremdenweſen nicht aus der höheren und dauernden Natur der Verwaltung hervor, ſo muß die Wiſſenſchaft darnach ſtreben, ſie auf alle Weiſe zu bekämpfen. Sind ſie aber in irgend einer Form durch dieſe Natur der Verwaltung be- gründet, ſo kann es uns wiederum nicht genügen, bloß das beſtehende Recht anzugeben, ſondern wir müſſen alsdann nach den Elementen ſuchen, welche durch die Verbindung der individuellen Freiheit mit der Vertretung des Geſammtintereſſes dieſem Theile der Verwaltung ſeine definitive organiſche Geſtalt zu geben beſtimmt ſind. Die außerordentliche Verſchiedenheit — denn es gibt vielleicht keinen Theil der ganzen Verwaltung, in welchem principiell und formell ein ſo großer Unterſchied zwiſchen den Staaten Europas beſtände, als im Paß- und Fremdenweſen — die hier herrſcht, zeigt, daß weder Theorie noch Praxis über jene Fragen zu einem Abſchluß gelangt ſind. Und doch iſt bekanntlich der Gegenſtand ſelbſt keinesweges ohne Wichtig- keit. Sein Einfluß iſt groß, nicht bloß auf gewiſſe materielle Intereſſen, ſondern eben ſo ſehr auf die phyſiſchen Faktoren des Staatslebens, auf die Vorſtellungen, welche ſich im Volke von den Anſichten der Regie- rungen ſelbſt über das Maß der individuellen Freiheit bilden. Und wie wir ſehen werden, mit Recht. Denn Paß- und Fremdenweſen ſind wirklich nicht unbedeutſame Maßſtäbe für den allgemeinen Standpunkt der Regierungen in dieſer Beziehung, und daher wohl einer Beachtung werth, die ſie aus einer Reihe von Gründen bisher nicht gefunden haben. Wir wollen daher den Verſuch machen, das organiſche Verhältniß derſelben darzulegen, ehe wir zum poſitiven Recht übergehen. Bei dem Paß- und Fremdenweſen begegnen wir dem, in der Verwaltungs- lehre nicht ganz ſeltenen Verhältniß in hohem Grade, daß bei einer ſehr reich- haltigen Geſetzgebung ſo gut als gar keine Literatur und wiſſenſchaftliche Be- handlung exiſtirt. Der allgemeine Grund dieſer Erſcheinung liegt wohl darin, daß man in den geſetzlichen Beſtimmungen nur Vorſchriften der vollziehenden Sicherheitspolizei ſah, für die ſich eben kein wiſſenſchaftliches Syſtem aufſtellen laſſe, während man anderſeits die Frage überhaupt nicht ſtellte, ob Paß- und Fremdenweſen an ſich überhaupt einer wiſſenſchaftlichen Behandlung fähig ſeien. Daraus erklärt es ſich wohl zunächſt, daß die Werke über Polizeiwiſſenſchaft des vorigen Jahrhunderts, wie Juſti und Sonnenfels, und eben ſo wenig die ſpä- tern, wie Jacobs, von demſelben überhaupt nicht reden. Aber ſelbſt die Dar- ſtellungen des poſitiven Polizeirechts ſind ſich, wie es ſcheint, nicht einig, ob ſie es aufnehmen ſollen; während Berg es behandelt, hat Fiſcher es wieder trotz ſeiner ſonſt minutiöſen Vollſtändigkeit weggelaſſen. Auch die neuere Zeit iſt nicht beſſer daran. Als die alte Polizeiwiſſenſchaft namentlich durch Adam

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866, S. 246. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre02_1866/268>, abgerufen am 22.11.2024.