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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866.

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für das Kirchspiel sei. Das Kirchspiel ward damit zu einer gesetzlich
geordneten Verwaltungsgemeinde speciell für das Armen-
wesen
. Es hatte die Pflicht, die Aufgaben der staatlichen Verwaltung
als Selbstverwaltungskörper zu übernehmen. Die Art wie dies geschah,
die Folgen die es für das Armenwesen hatte, gehören der Armenver-
waltung an. Allein mit der Aufstellung dieser ersten, in der Geschichte
vorkommenden reinen Verwaltungsgemeinde mit Verwaltungsbürger-
recht und gesetzlicher Selbstbesteurung, als welche wir das Armenkirch-
spiel der Armenakte von 1601 (39 Elis.) bezeichnen müssen, trat nun
natürlich auch die zweite Frage auf, gegen welche Individuen
diese Verwaltungsgemeinden nun zur Armenpflege verpflichtet sein
solle. Und hier zeigte es sich nun bald, daß diese Verpflichtung einen
anderen Charakter habe, als die freie Uebernahme von Staatsauf-
gaben. Indem der Staat die Armenhülfe als staatliche Aufgabe
erklärt, nimmt dasjenige Organ, welches diese Aufgabe vollzieht,
den Charakter eines amtlichen Organs an. Es kann als solches
nicht mehr frei beschließen, ob und gegen wen es seine Funk-
tionen erfüllen will. Es wird ihm, wie es das organische Wesen des
Amts fordert, seine Competenz als Pflicht, vermöge der Organisa-
tionsgewalt, vorgeschrieben, und der Einzelne hat ein Recht darauf,
daß dies Organ, obgleich es ein Selbstverwaltungskörper ist, gleich wie
ein Amt jene Pflicht ihm gegenüber erfülle. Oder, es entsteht der Be-
griff und das Recht der Zuständigkeit für die gesetzlich vorgeschriebene
Pflicht der Armenunterstützung. Ist das nun aber der Fall, so muß
natürlich auch das Gesetz die Bedingungen und Gränzen dieser Zustän-
digkeit regeln, das ist, dem Einzelnen ein persönliches Recht auf die
Armenunterstützung einer bestimmten Armenverwaltungsgemeinde
(oder eines bestimmten Kirchspiels) geben. Und dies Recht nennen wir
das Heimathsrecht.

Auf diese Weise nun hat sich der unbestimmte und allgemeine
Begriff der Angehörigkeit zuerst in England durch die Armengesetzgebung
in seine beiden großen Bestandtheile oder Elemente aufgelöst, obgleich
wir hier keiner Orts-, sondern nur einer Verwaltungsgemeinde begegnen.
Der erste ist der des Verwaltungs-(Gemeinde) bürgerthums, als
Recht und Pflicht zur Theilnahme an der Selbstverwaltung und Steuern,
der zweite ist der des Heimathswesens, als Pflicht der Verwaltungs-
gemeinde und Recht des Einzelnen auf individuelle Vollziehung der
staatlichen Armenverwaltung.

Natürlich war diese Unterscheidung, und die Nothwendigkeit, für
dies Heimathswesen ein eigenes Rechtssystem aufzustellen, nicht gleich
anfangs klar. Man mußte erst erfahren, daß das "Angehören" eine

für das Kirchſpiel ſei. Das Kirchſpiel ward damit zu einer geſetzlich
geordneten Verwaltungsgemeinde ſpeciell für das Armen-
weſen
. Es hatte die Pflicht, die Aufgaben der ſtaatlichen Verwaltung
als Selbſtverwaltungskörper zu übernehmen. Die Art wie dies geſchah,
die Folgen die es für das Armenweſen hatte, gehören der Armenver-
waltung an. Allein mit der Aufſtellung dieſer erſten, in der Geſchichte
vorkommenden reinen Verwaltungsgemeinde mit Verwaltungsbürger-
recht und geſetzlicher Selbſtbeſteurung, als welche wir das Armenkirch-
ſpiel der Armenakte von 1601 (39 Elis.) bezeichnen müſſen, trat nun
natürlich auch die zweite Frage auf, gegen welche Individuen
dieſe Verwaltungsgemeinden nun zur Armenpflege verpflichtet ſein
ſolle. Und hier zeigte es ſich nun bald, daß dieſe Verpflichtung einen
anderen Charakter habe, als die freie Uebernahme von Staatsauf-
gaben. Indem der Staat die Armenhülfe als ſtaatliche Aufgabe
erklärt, nimmt dasjenige Organ, welches dieſe Aufgabe vollzieht,
den Charakter eines amtlichen Organs an. Es kann als ſolches
nicht mehr frei beſchließen, ob und gegen wen es ſeine Funk-
tionen erfüllen will. Es wird ihm, wie es das organiſche Weſen des
Amts fordert, ſeine Competenz als Pflicht, vermöge der Organiſa-
tionsgewalt, vorgeſchrieben, und der Einzelne hat ein Recht darauf,
daß dies Organ, obgleich es ein Selbſtverwaltungskörper iſt, gleich wie
ein Amt jene Pflicht ihm gegenüber erfülle. Oder, es entſteht der Be-
griff und das Recht der Zuſtändigkeit für die geſetzlich vorgeſchriebene
Pflicht der Armenunterſtützung. Iſt das nun aber der Fall, ſo muß
natürlich auch das Geſetz die Bedingungen und Gränzen dieſer Zuſtän-
digkeit regeln, das iſt, dem Einzelnen ein perſönliches Recht auf die
Armenunterſtützung einer beſtimmten Armenverwaltungsgemeinde
(oder eines beſtimmten Kirchſpiels) geben. Und dies Recht nennen wir
das Heimathsrecht.

Auf dieſe Weiſe nun hat ſich der unbeſtimmte und allgemeine
Begriff der Angehörigkeit zuerſt in England durch die Armengeſetzgebung
in ſeine beiden großen Beſtandtheile oder Elemente aufgelöst, obgleich
wir hier keiner Orts-, ſondern nur einer Verwaltungsgemeinde begegnen.
Der erſte iſt der des Verwaltungs-(Gemeinde) bürgerthums, als
Recht und Pflicht zur Theilnahme an der Selbſtverwaltung und Steuern,
der zweite iſt der des Heimathsweſens, als Pflicht der Verwaltungs-
gemeinde und Recht des Einzelnen auf individuelle Vollziehung der
ſtaatlichen Armenverwaltung.

Natürlich war dieſe Unterſcheidung, und die Nothwendigkeit, für
dies Heimathsweſen ein eigenes Rechtsſyſtem aufzuſtellen, nicht gleich
anfangs klar. Man mußte erſt erfahren, daß das „Angehören“ eine

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[293/0315] für das Kirchſpiel ſei. Das Kirchſpiel ward damit zu einer geſetzlich geordneten Verwaltungsgemeinde ſpeciell für das Armen- weſen. Es hatte die Pflicht, die Aufgaben der ſtaatlichen Verwaltung als Selbſtverwaltungskörper zu übernehmen. Die Art wie dies geſchah, die Folgen die es für das Armenweſen hatte, gehören der Armenver- waltung an. Allein mit der Aufſtellung dieſer erſten, in der Geſchichte vorkommenden reinen Verwaltungsgemeinde mit Verwaltungsbürger- recht und geſetzlicher Selbſtbeſteurung, als welche wir das Armenkirch- ſpiel der Armenakte von 1601 (39 Elis.) bezeichnen müſſen, trat nun natürlich auch die zweite Frage auf, gegen welche Individuen dieſe Verwaltungsgemeinden nun zur Armenpflege verpflichtet ſein ſolle. Und hier zeigte es ſich nun bald, daß dieſe Verpflichtung einen anderen Charakter habe, als die freie Uebernahme von Staatsauf- gaben. Indem der Staat die Armenhülfe als ſtaatliche Aufgabe erklärt, nimmt dasjenige Organ, welches dieſe Aufgabe vollzieht, den Charakter eines amtlichen Organs an. Es kann als ſolches nicht mehr frei beſchließen, ob und gegen wen es ſeine Funk- tionen erfüllen will. Es wird ihm, wie es das organiſche Weſen des Amts fordert, ſeine Competenz als Pflicht, vermöge der Organiſa- tionsgewalt, vorgeſchrieben, und der Einzelne hat ein Recht darauf, daß dies Organ, obgleich es ein Selbſtverwaltungskörper iſt, gleich wie ein Amt jene Pflicht ihm gegenüber erfülle. Oder, es entſteht der Be- griff und das Recht der Zuſtändigkeit für die geſetzlich vorgeſchriebene Pflicht der Armenunterſtützung. Iſt das nun aber der Fall, ſo muß natürlich auch das Geſetz die Bedingungen und Gränzen dieſer Zuſtän- digkeit regeln, das iſt, dem Einzelnen ein perſönliches Recht auf die Armenunterſtützung einer beſtimmten Armenverwaltungsgemeinde (oder eines beſtimmten Kirchſpiels) geben. Und dies Recht nennen wir das Heimathsrecht. Auf dieſe Weiſe nun hat ſich der unbeſtimmte und allgemeine Begriff der Angehörigkeit zuerſt in England durch die Armengeſetzgebung in ſeine beiden großen Beſtandtheile oder Elemente aufgelöst, obgleich wir hier keiner Orts-, ſondern nur einer Verwaltungsgemeinde begegnen. Der erſte iſt der des Verwaltungs-(Gemeinde) bürgerthums, als Recht und Pflicht zur Theilnahme an der Selbſtverwaltung und Steuern, der zweite iſt der des Heimathsweſens, als Pflicht der Verwaltungs- gemeinde und Recht des Einzelnen auf individuelle Vollziehung der ſtaatlichen Armenverwaltung. Natürlich war dieſe Unterſcheidung, und die Nothwendigkeit, für dies Heimathsweſen ein eigenes Rechtsſyſtem aufzuſtellen, nicht gleich anfangs klar. Man mußte erſt erfahren, daß das „Angehören“ eine

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866, S. 293. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre02_1866/315>, abgerufen am 24.11.2024.