Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866.

Bild:
<< vorherige Seite

Kräfte besitzen, sich ihren und der Angehörigen nothdürftigen Lebens-
unterhalt zu verschaffen" der Aufenthalt verweigert werden darf (§. 4);
auch das Gesetz vom 21. Mai 1855 hat dies nicht wesentlich geändert,
da dasselbe den Erwerb eines Wohnsitzes zur Voraussetzung hat,
und ein "Wohnsitz" keine volkswirthschaftliche Definition zuläßt. Uebri-
gens ist das Gesammtresultat für Erwerb und Verlust der Armenzu-
ständigkeit nach diesen Gesetzen das, daß dieselbe bei einem erworbenen
Wohnsitz nach Einem, ohne solchen nach Drei Jahren gewonnen wird,
wenn nicht die Verweigerung des Aufenthalts eintritt, worüber die
amtliche Behörde entscheidet. Bitzer S. 182--192. Döhl S. 39 -- 124.
Die speziell preußische Literatur bei Rönne II. §. 339. Warum
Bitzer alles das nicht benützt hat, was Rönne hier angibt, ist nicht
recht ersichtlich. Oder ward ihm auch durch die ganze Armenrechts-
literatur Preußens die eigentliche Frage nicht klarer? Es scheint fast
so, denn sein neuestes Werk über die Armenarbeitshäuser zeigt, daß
er mit richtigem Takt den alten Weg verlassen hat.

Bayern. Das bayerische System der Angehörigkeit ver-
dient wieder eine besondere Aufmerksamkeit, da es sowohl von dem
österreichischen als dem preußischen in Princip und Form sehr verschieden
ist, und als dasjenige angesehen werden muß, welches die Deutschland
eigenthümliche Vermischung der ständischen und der polizeilichen Ange-
hörigkeit in einem leider noch sehr unvollständigen, und daher einheitlich
schwer oder gar nicht darstellbaren Bilde enthält.

Die allgemeine Grundlage ist auch hier die Gemeindeordnung,
das Edict vom 17. Mai 1818, das als ein Theil der Verfassung an-
gesehen werden kann, und das in der "Revidirten Verordnung, die
Verfassung und Verwaltung der Gemeinden im Reiche betreffend" von
1834 (bei Weiske S. 70 ff.) in allen wesentlichen Punkten zum Grunde
liegt. Pözl (Bayerisches Verfassungsrecht §. 93) zeigt uns das Ge-
meindeangehörigkeitswesen in seiner eignen theoretischen Uebergangs-
gestaltung, wie es durch den Einfluß der reinen Ideen auf die alten
Zustände hervorgerufen ward, eine Gestaltung, die eben wenig oder
gar keine Vergleichung mit England und Frankreich zuläßt, und selbst
von der neuen freieren Gestaltung in Oesterreich und Preußen wesentlich
abweicht. Nach diesem noch jetzt bestehenden Recht scheiden sich die Ge-
meindeangehörigen in wirkliche Gemeindeglieder oder Gemeinde-
bürger
(mit ständigem Wohnsitz, Grundbesitz oder besteuertem Gewerbe)
in Schutzverwandte, die bloß ansässig sind, und in eine dritte Classe,
welche bloß Heimathsrecht oder einen dauernden Aufenthalt oder Mieth-
und Inleute haben. Es ist auf den ersten Blick klar, wie diese
Unterscheidung nur der Reflex der früheren Gemeindeordnung ist, und

Kräfte beſitzen, ſich ihren und der Angehörigen nothdürftigen Lebens-
unterhalt zu verſchaffen“ der Aufenthalt verweigert werden darf (§. 4);
auch das Geſetz vom 21. Mai 1855 hat dies nicht weſentlich geändert,
da daſſelbe den Erwerb eines Wohnſitzes zur Vorausſetzung hat,
und ein „Wohnſitz“ keine volkswirthſchaftliche Definition zuläßt. Uebri-
gens iſt das Geſammtreſultat für Erwerb und Verluſt der Armenzu-
ſtändigkeit nach dieſen Geſetzen das, daß dieſelbe bei einem erworbenen
Wohnſitz nach Einem, ohne ſolchen nach Drei Jahren gewonnen wird,
wenn nicht die Verweigerung des Aufenthalts eintritt, worüber die
amtliche Behörde entſcheidet. Bitzer S. 182—192. Döhl S. 39 — 124.
Die ſpeziell preußiſche Literatur bei Rönne II. §. 339. Warum
Bitzer alles das nicht benützt hat, was Rönne hier angibt, iſt nicht
recht erſichtlich. Oder ward ihm auch durch die ganze Armenrechts-
literatur Preußens die eigentliche Frage nicht klarer? Es ſcheint faſt
ſo, denn ſein neueſtes Werk über die Armenarbeitshäuſer zeigt, daß
er mit richtigem Takt den alten Weg verlaſſen hat.

Bayern. Das bayeriſche Syſtem der Angehörigkeit ver-
dient wieder eine beſondere Aufmerkſamkeit, da es ſowohl von dem
öſterreichiſchen als dem preußiſchen in Princip und Form ſehr verſchieden
iſt, und als dasjenige angeſehen werden muß, welches die Deutſchland
eigenthümliche Vermiſchung der ſtändiſchen und der polizeilichen Ange-
hörigkeit in einem leider noch ſehr unvollſtändigen, und daher einheitlich
ſchwer oder gar nicht darſtellbaren Bilde enthält.

Die allgemeine Grundlage iſt auch hier die Gemeindeordnung,
das Edict vom 17. Mai 1818, das als ein Theil der Verfaſſung an-
geſehen werden kann, und das in der „Revidirten Verordnung, die
Verfaſſung und Verwaltung der Gemeinden im Reiche betreffend“ von
1834 (bei Weiske S. 70 ff.) in allen weſentlichen Punkten zum Grunde
liegt. Pözl (Bayeriſches Verfaſſungsrecht §. 93) zeigt uns das Ge-
meindeangehörigkeitsweſen in ſeiner eignen theoretiſchen Uebergangs-
geſtaltung, wie es durch den Einfluß der reinen Ideen auf die alten
Zuſtände hervorgerufen ward, eine Geſtaltung, die eben wenig oder
gar keine Vergleichung mit England und Frankreich zuläßt, und ſelbſt
von der neuen freieren Geſtaltung in Oeſterreich und Preußen weſentlich
abweicht. Nach dieſem noch jetzt beſtehenden Recht ſcheiden ſich die Ge-
meindeangehörigen in wirkliche Gemeindeglieder oder Gemeinde-
bürger
(mit ſtändigem Wohnſitz, Grundbeſitz oder beſteuertem Gewerbe)
in Schutzverwandte, die bloß anſäſſig ſind, und in eine dritte Claſſe,
welche bloß Heimathsrecht oder einen dauernden Aufenthalt oder Mieth-
und Inleute haben. Es iſt auf den erſten Blick klar, wie dieſe
Unterſcheidung nur der Reflex der früheren Gemeindeordnung iſt, und

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <div n="7">
                    <div n="8">
                      <div n="9">
                        <p><pb facs="#f0367" n="345"/>
Kräfte be&#x017F;itzen, &#x017F;ich ihren und der Angehörigen nothdürftigen Lebens-<lb/>
unterhalt zu ver&#x017F;chaffen&#x201C; der Aufenthalt verweigert werden darf (§. 4);<lb/>
auch das Ge&#x017F;etz vom 21. Mai 1855 hat dies nicht we&#x017F;entlich geändert,<lb/>
da da&#x017F;&#x017F;elbe den Erwerb eines <hi rendition="#g">Wohn&#x017F;itzes</hi> zur Voraus&#x017F;etzung hat,<lb/>
und ein &#x201E;Wohn&#x017F;itz&#x201C; keine volkswirth&#x017F;chaftliche Definition zuläßt. Uebri-<lb/>
gens i&#x017F;t das Ge&#x017F;ammtre&#x017F;ultat für Erwerb und Verlu&#x017F;t der Armenzu-<lb/>
&#x017F;tändigkeit nach die&#x017F;en Ge&#x017F;etzen das, daß die&#x017F;elbe bei einem erworbenen<lb/>
Wohn&#x017F;itz nach <hi rendition="#g">Einem</hi>, ohne &#x017F;olchen nach <hi rendition="#g">Drei</hi> Jahren gewonnen wird,<lb/><hi rendition="#g">wenn</hi> nicht die Verweigerung des Aufenthalts eintritt, worüber die<lb/>
amtliche Behörde ent&#x017F;cheidet. <hi rendition="#g">Bitzer</hi> S. 182&#x2014;192. <hi rendition="#g">Döhl</hi> S. 39 &#x2014; 124.<lb/>
Die &#x017F;peziell preußi&#x017F;che Literatur bei <hi rendition="#g">Rönne</hi> <hi rendition="#aq">II.</hi> §. 339. Warum<lb/><hi rendition="#g">Bitzer</hi> alles das nicht benützt hat, was <hi rendition="#g">Rönne</hi> hier angibt, i&#x017F;t nicht<lb/>
recht er&#x017F;ichtlich. Oder ward ihm auch durch die ganze Armenrechts-<lb/>
literatur Preußens die eigentliche Frage nicht klarer? Es &#x017F;cheint fa&#x017F;t<lb/>
&#x017F;o, denn &#x017F;ein neue&#x017F;tes Werk über die Armenarbeitshäu&#x017F;er zeigt, daß<lb/>
er mit richtigem Takt den alten Weg verla&#x017F;&#x017F;en hat.</p><lb/>
                        <p><hi rendition="#g">Bayern</hi>. Das <hi rendition="#g">bayeri&#x017F;che Sy&#x017F;tem der Angehörigkeit</hi> ver-<lb/>
dient wieder eine be&#x017F;ondere Aufmerk&#x017F;amkeit, da es &#x017F;owohl von dem<lb/>
ö&#x017F;terreichi&#x017F;chen als dem preußi&#x017F;chen in Princip und Form &#x017F;ehr ver&#x017F;chieden<lb/>
i&#x017F;t, und als dasjenige ange&#x017F;ehen werden muß, welches die Deut&#x017F;chland<lb/>
eigenthümliche Vermi&#x017F;chung der &#x017F;tändi&#x017F;chen und der polizeilichen Ange-<lb/>
hörigkeit in einem leider noch &#x017F;ehr unvoll&#x017F;tändigen, und daher einheitlich<lb/>
&#x017F;chwer oder gar nicht dar&#x017F;tellbaren Bilde enthält.</p><lb/>
                        <p>Die allgemeine Grundlage i&#x017F;t auch hier die <hi rendition="#g">Gemeindeordnung</hi>,<lb/>
das Edict vom 17. Mai 1818, das als ein Theil der Verfa&#x017F;&#x017F;ung an-<lb/>
ge&#x017F;ehen werden kann, und das in der &#x201E;Revidirten Verordnung, die<lb/>
Verfa&#x017F;&#x017F;ung und Verwaltung der Gemeinden im Reiche betreffend&#x201C; von<lb/>
1834 (bei <hi rendition="#g">Weiske</hi> S. 70 ff.) in allen we&#x017F;entlichen Punkten zum Grunde<lb/>
liegt. <hi rendition="#g">Pözl</hi> (Bayeri&#x017F;ches Verfa&#x017F;&#x017F;ungsrecht §. 93) zeigt uns das Ge-<lb/>
meindeangehörigkeitswe&#x017F;en in &#x017F;einer eignen theoreti&#x017F;chen Uebergangs-<lb/>
ge&#x017F;taltung, wie es durch den Einfluß der reinen Ideen auf die alten<lb/>
Zu&#x017F;tände hervorgerufen ward, eine Ge&#x017F;taltung, die eben wenig oder<lb/>
gar keine Vergleichung mit England und Frankreich zuläßt, und &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
von der neuen freieren Ge&#x017F;taltung in Oe&#x017F;terreich und Preußen we&#x017F;entlich<lb/>
abweicht. Nach die&#x017F;em noch jetzt be&#x017F;tehenden Recht &#x017F;cheiden &#x017F;ich die Ge-<lb/>
meindeangehörigen in wirkliche <hi rendition="#g">Gemeindeglieder</hi> oder <hi rendition="#g">Gemeinde-<lb/>
bürger</hi> (mit &#x017F;tändigem Wohn&#x017F;itz, Grundbe&#x017F;itz oder be&#x017F;teuertem Gewerbe)<lb/>
in <hi rendition="#g">Schutzverwandte</hi>, die bloß an&#x017F;ä&#x017F;&#x017F;ig &#x017F;ind, und in eine dritte Cla&#x017F;&#x017F;e,<lb/>
welche bloß Heimathsrecht oder einen dauernden Aufenthalt oder <hi rendition="#g">Mieth</hi>-<lb/>
und <hi rendition="#g">Inleute</hi> haben. Es i&#x017F;t auf den er&#x017F;ten Blick klar, wie die&#x017F;e<lb/>
Unter&#x017F;cheidung nur der Reflex der früheren Gemeindeordnung i&#x017F;t, und<lb/></p>
                      </div>
                    </div>
                  </div>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[345/0367] Kräfte beſitzen, ſich ihren und der Angehörigen nothdürftigen Lebens- unterhalt zu verſchaffen“ der Aufenthalt verweigert werden darf (§. 4); auch das Geſetz vom 21. Mai 1855 hat dies nicht weſentlich geändert, da daſſelbe den Erwerb eines Wohnſitzes zur Vorausſetzung hat, und ein „Wohnſitz“ keine volkswirthſchaftliche Definition zuläßt. Uebri- gens iſt das Geſammtreſultat für Erwerb und Verluſt der Armenzu- ſtändigkeit nach dieſen Geſetzen das, daß dieſelbe bei einem erworbenen Wohnſitz nach Einem, ohne ſolchen nach Drei Jahren gewonnen wird, wenn nicht die Verweigerung des Aufenthalts eintritt, worüber die amtliche Behörde entſcheidet. Bitzer S. 182—192. Döhl S. 39 — 124. Die ſpeziell preußiſche Literatur bei Rönne II. §. 339. Warum Bitzer alles das nicht benützt hat, was Rönne hier angibt, iſt nicht recht erſichtlich. Oder ward ihm auch durch die ganze Armenrechts- literatur Preußens die eigentliche Frage nicht klarer? Es ſcheint faſt ſo, denn ſein neueſtes Werk über die Armenarbeitshäuſer zeigt, daß er mit richtigem Takt den alten Weg verlaſſen hat. Bayern. Das bayeriſche Syſtem der Angehörigkeit ver- dient wieder eine beſondere Aufmerkſamkeit, da es ſowohl von dem öſterreichiſchen als dem preußiſchen in Princip und Form ſehr verſchieden iſt, und als dasjenige angeſehen werden muß, welches die Deutſchland eigenthümliche Vermiſchung der ſtändiſchen und der polizeilichen Ange- hörigkeit in einem leider noch ſehr unvollſtändigen, und daher einheitlich ſchwer oder gar nicht darſtellbaren Bilde enthält. Die allgemeine Grundlage iſt auch hier die Gemeindeordnung, das Edict vom 17. Mai 1818, das als ein Theil der Verfaſſung an- geſehen werden kann, und das in der „Revidirten Verordnung, die Verfaſſung und Verwaltung der Gemeinden im Reiche betreffend“ von 1834 (bei Weiske S. 70 ff.) in allen weſentlichen Punkten zum Grunde liegt. Pözl (Bayeriſches Verfaſſungsrecht §. 93) zeigt uns das Ge- meindeangehörigkeitsweſen in ſeiner eignen theoretiſchen Uebergangs- geſtaltung, wie es durch den Einfluß der reinen Ideen auf die alten Zuſtände hervorgerufen ward, eine Geſtaltung, die eben wenig oder gar keine Vergleichung mit England und Frankreich zuläßt, und ſelbſt von der neuen freieren Geſtaltung in Oeſterreich und Preußen weſentlich abweicht. Nach dieſem noch jetzt beſtehenden Recht ſcheiden ſich die Ge- meindeangehörigen in wirkliche Gemeindeglieder oder Gemeinde- bürger (mit ſtändigem Wohnſitz, Grundbeſitz oder beſteuertem Gewerbe) in Schutzverwandte, die bloß anſäſſig ſind, und in eine dritte Claſſe, welche bloß Heimathsrecht oder einen dauernden Aufenthalt oder Mieth- und Inleute haben. Es iſt auf den erſten Blick klar, wie dieſe Unterſcheidung nur der Reflex der früheren Gemeindeordnung iſt, und

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre02_1866
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre02_1866/367
Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866, S. 345. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre02_1866/367>, abgerufen am 26.11.2024.