erste Vertreter dieser Idee ist bekanntlich Rousseau; nur daß sein allge- meiner Wille den Charakter und das Recht eines Vertrages behält, der Contrat social, und daher beständig gelöst werden kann. Daß daher im Grunde nicht bloß die Ordnung der Verfassung so gut wie jeder Vertrag, sondern eigentlich auch der Staat selbst in jedem Augenblick durch die Contrahenten, die Gesammtheit der Staatsbürger, aufgelöst werden kann. Die Freiheit in der Rousseau'schen Staatsidee bestand daher wesentlich in dieser Berechtigung der Staatsbürger, durch ihren individuellen Willen über die Existenz des Staats selbst zu verfügen. Von einer selbständigen Verwaltung war in derselben natürlich keine Rede; allein aus ihr folgte das große, der ganzen französischen Revolu- tion zum Grunde liegende Rechtsprincip, daß diese volonte generale ohne alle Rücksicht auf bestehende Rechte souverän sei. Das war es, dessen man bedurfte; der Uebergang von diesem Rechtsprincip der Ver- waltung zum Inhalt derselben fehlt gänzlich; allein das zweite Princip der "Egalite" wird dann maßgebend für alles, was die souveräne "Liberte" in der Verwaltung zu thun hat. Die Verfassung dagegen, die Constitution, ist dann die Ordnung, in welcher unter Zuziehung Aller jener Vertrag geschlossen und dieß Recht der Maßregeln des Staats für sein neues Leben festgestellt wird; der Staat ist hier in die Ein- zelnen aufgelöst, die Freiheit verwirklicht sich wie in den alten Repu- bliken, in der Unterwerfung des Staats unter seine Bürger, die zur rein numerischen Herrschaft der Kopfzahl führt. Das ist das Recht des Vertragsstaats.
Den deutschen Denkern war der Widerspruch, der in dieser Auf- fassung der Freiheit lag, doch zu groß und zu greifbar. Bei ihnen beginnt daher eine anders geartete Arbeit, um jene Frage zu lösen. Die Deutschen haben es nie begriffen, wie man den Staat auf den guten Willen der Staatsbürger zurückführen und damit usteron pro- teron aufstellen könne. Sie suchten daher, und suchen noch jetzt jene Berechtigung des Staats gegenüber der Freiheit des Einzelnen, statt in dem Vertrage des letzteren mit einem Etwas, das zuletzt doch erst durch eben diesen Vertrag ins Leben gerufen werden soll, vielmehr im sitt- lichen Wesen des Staats selber. Der Staat ist ihnen eben so wenig ein Resultat des Willens seiner Angehörigen, als der Einzelne ein Resultat seines eignen Körpers. Er ist durch sich selber da. Um ihn zu begreifen, muß man das Wesen des gesammten geistigen Da- seins erkennen. Es ist ihnen daher, mögen sie nun die Sache aus- drücken wie sie wollen, eine organische, daher von keinem Einzelnen abhängige, durch irgend eine mehr oder weniger großartige Weltan- schauung gegebene, also an und für sich daseiende, in sich selbst ruhende
erſte Vertreter dieſer Idee iſt bekanntlich Rouſſeau; nur daß ſein allge- meiner Wille den Charakter und das Recht eines Vertrages behält, der Contrat social, und daher beſtändig gelöst werden kann. Daß daher im Grunde nicht bloß die Ordnung der Verfaſſung ſo gut wie jeder Vertrag, ſondern eigentlich auch der Staat ſelbſt in jedem Augenblick durch die Contrahenten, die Geſammtheit der Staatsbürger, aufgelöst werden kann. Die Freiheit in der Rouſſeau’ſchen Staatsidee beſtand daher weſentlich in dieſer Berechtigung der Staatsbürger, durch ihren individuellen Willen über die Exiſtenz des Staats ſelbſt zu verfügen. Von einer ſelbſtändigen Verwaltung war in derſelben natürlich keine Rede; allein aus ihr folgte das große, der ganzen franzöſiſchen Revolu- tion zum Grunde liegende Rechtsprincip, daß dieſe volonté générale ohne alle Rückſicht auf beſtehende Rechte ſouverän ſei. Das war es, deſſen man bedurfte; der Uebergang von dieſem Rechtsprincip der Ver- waltung zum Inhalt derſelben fehlt gänzlich; allein das zweite Princip der „Egalité“ wird dann maßgebend für alles, was die ſouveräne „Liberté“ in der Verwaltung zu thun hat. Die Verfaſſung dagegen, die Conſtitution, iſt dann die Ordnung, in welcher unter Zuziehung Aller jener Vertrag geſchloſſen und dieß Recht der Maßregeln des Staats für ſein neues Leben feſtgeſtellt wird; der Staat iſt hier in die Ein- zelnen aufgelöst, die Freiheit verwirklicht ſich wie in den alten Repu- bliken, in der Unterwerfung des Staats unter ſeine Bürger, die zur rein numeriſchen Herrſchaft der Kopfzahl führt. Das iſt das Recht des Vertragsſtaats.
Den deutſchen Denkern war der Widerſpruch, der in dieſer Auf- faſſung der Freiheit lag, doch zu groß und zu greifbar. Bei ihnen beginnt daher eine anders geartete Arbeit, um jene Frage zu löſen. Die Deutſchen haben es nie begriffen, wie man den Staat auf den guten Willen der Staatsbürger zurückführen und damit ὑστεϱον πϱο- τεϱον aufſtellen könne. Sie ſuchten daher, und ſuchen noch jetzt jene Berechtigung des Staats gegenüber der Freiheit des Einzelnen, ſtatt in dem Vertrage des letzteren mit einem Etwas, das zuletzt doch erſt durch eben dieſen Vertrag ins Leben gerufen werden ſoll, vielmehr im ſitt- lichen Weſen des Staats ſelber. Der Staat iſt ihnen eben ſo wenig ein Reſultat des Willens ſeiner Angehörigen, als der Einzelne ein Reſultat ſeines eignen Körpers. Er iſt durch ſich ſelber da. Um ihn zu begreifen, muß man das Weſen des geſammten geiſtigen Da- ſeins erkennen. Es iſt ihnen daher, mögen ſie nun die Sache aus- drücken wie ſie wollen, eine organiſche, daher von keinem Einzelnen abhängige, durch irgend eine mehr oder weniger großartige Weltan- ſchauung gegebene, alſo an und für ſich daſeiende, in ſich ſelbſt ruhende
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erſte Vertreter dieſer Idee iſt bekanntlich Rouſſeau; nur daß ſein allge-
meiner Wille den Charakter und das Recht eines Vertrages behält, der
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im Grunde nicht bloß die Ordnung der Verfaſſung ſo gut wie jeder
Vertrag, ſondern eigentlich auch der Staat ſelbſt in jedem Augenblick
durch die Contrahenten, die Geſammtheit der Staatsbürger, aufgelöst
werden kann. Die Freiheit in der Rouſſeau’ſchen Staatsidee beſtand
daher weſentlich in dieſer Berechtigung der Staatsbürger, durch ihren
individuellen Willen über die Exiſtenz des Staats ſelbſt zu verfügen.
Von einer ſelbſtändigen Verwaltung war in derſelben natürlich keine
Rede; allein aus ihr folgte das große, der ganzen franzöſiſchen Revolu-
tion zum Grunde liegende Rechtsprincip, daß dieſe volonté générale
ohne alle Rückſicht auf beſtehende Rechte ſouverän ſei. Das war es,
deſſen man bedurfte; der Uebergang von dieſem Rechtsprincip der Ver-
waltung zum Inhalt derſelben fehlt gänzlich; allein das zweite Princip
der „Egalité“ wird dann maßgebend für alles, was die ſouveräne
„Liberté“ in der Verwaltung zu thun hat. Die Verfaſſung dagegen, die
Conſtitution, iſt dann die Ordnung, in welcher unter Zuziehung Aller
jener Vertrag geſchloſſen und dieß Recht der Maßregeln des Staats
für ſein neues Leben feſtgeſtellt wird; der Staat iſt hier in die Ein-
zelnen aufgelöst, die Freiheit verwirklicht ſich wie in den alten Repu-
bliken, in der Unterwerfung des Staats unter ſeine Bürger, die zur
rein numeriſchen Herrſchaft der Kopfzahl führt. Das iſt das Recht
des Vertragsſtaats.
Den deutſchen Denkern war der Widerſpruch, der in dieſer Auf-
faſſung der Freiheit lag, doch zu groß und zu greifbar. Bei ihnen
beginnt daher eine anders geartete Arbeit, um jene Frage zu löſen.
Die Deutſchen haben es nie begriffen, wie man den Staat auf den
guten Willen der Staatsbürger zurückführen und damit ὑστεϱον πϱο-
τεϱον aufſtellen könne. Sie ſuchten daher, und ſuchen noch jetzt jene
Berechtigung des Staats gegenüber der Freiheit des Einzelnen, ſtatt in
dem Vertrage des letzteren mit einem Etwas, das zuletzt doch erſt durch
eben dieſen Vertrag ins Leben gerufen werden ſoll, vielmehr im ſitt-
lichen Weſen des Staats ſelber. Der Staat iſt ihnen eben ſo
wenig ein Reſultat des Willens ſeiner Angehörigen, als der Einzelne
ein Reſultat ſeines eignen Körpers. Er iſt durch ſich ſelber da. Um
ihn zu begreifen, muß man das Weſen des geſammten geiſtigen Da-
ſeins erkennen. Es iſt ihnen daher, mögen ſie nun die Sache aus-
drücken wie ſie wollen, eine organiſche, daher von keinem Einzelnen
abhängige, durch irgend eine mehr oder weniger großartige Weltan-
ſchauung gegebene, alſo an und für ſich daſeiende, in ſich ſelbſt ruhende
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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866, S. 25. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre02_1866/47>, abgerufen am 21.11.2024.
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