dessen Lösung selbst der Staat als höchste Form der Persönlichkeit nur ein Faktor, wenn auch ein wichtiger ist.
Die zur unendlichen Entwicklung bestimmte Persönlichkeit ist zugleich unfähig, sich nur durch sich selbst zur Verwirklichung ihrer eigenen Idee hinaufzuarbeiten. Sie ist an sich, in ihrem innersten Wesen ungemessen und unendlich. Das einfache Verständniß dieser gewaltigen Thatsache drückt dieß in der Ahnung der individuellen Unsterblichkeit aus. Die Wissenschaft formulirt es als die "reine Selbstbestimmung." Allein die Persönlichkeit ist zugleich in ihrer Wirklichkeit fast unendlich begränzt und unmächtig; die Wissenschaft sagt, sie sei auf allen Punkten "mit dem Maße umgeben." In tausend verschiedenen Gestalten erscheint im Einzel- wie im Gesammtleben das Gefühl dieses Widerspruches. Seine Lösung ist die Lehre von der Ethik; der Kampf, in dem sie gefunden wird, ist das sittliche Pathos; sein Verständniß aber ist die Grundlage des organischen Verständnisses jedes Theiles und jeder Funktion im persönlichen Leben.
Die Logik dieses Verständnisses, so weit sie hierher gehört, ist folgende.
Jedes Streben nach Lösung jenes Widerspruches in der Erfüllung der persönlichen Bestimmung muß, wegen der gegebenen Begränzung unserer Kräfte, zu seiner ersten und unabweisbaren Bedingung, im Gebiete dieser persönlichen Kräfte die Unendlichkeit wieder herstellen, welche dem Einzelnen fehlt. Das nun geschieht formell durch die unendliche Vielheit der menschlichen Persönlichkeiten. Allein diese reicht an sich durch ihr bloßes Dasein nicht aus. Es muß vielmehr für den Einzelnen diese Vielheit wirklich zu jener Erfüllung seiner eigenen Kraft werden, die ihm fehlt; das nun hat wiederum zur Voraussetzung, daß die Vielheit durch das Auftreten dieser für jedes Glied derselben gel- tende Aufgabe zuerst eine Einheit werde. Wir nennen alle Gestalten dieser Einheit der Vielheit, insofern sie eben durch jenes Wesen der Persönlichkeit gesetzt ist, eine Gemeinschaft. Der lebendige Inhalt der Gemeinschaft, oder das Leben derselben, erscheint daher an und für sich als eine unbedingte, das ist durch das absolute Wesen der Persön- lichkeit selbst gesetzte Bedingung für das Leben der letzteren. Ohne den Begriff und das Dasein der Gemeinschaft ist der Einzelne ein absoluter, unlösbarer Widerspruch.
Ist nun diese Gemeinschaft ihrem organischen Begriffe nach eine absolute Bedingung für das Leben der Persönlichkeit, so ist sie eben dadurch selbst etwas Selbstbedingtes. Das aber heißt, Persönlichkeit sein. Die Gemeinschaft als Einheit der Persönlichkeiten wird daher zur persönlichen Einheit. Sie wird selbst Persönlichkeit. Und diese Gemeinschaft der Menschen als Persönlichkeit ist eben der Staat.
deſſen Löſung ſelbſt der Staat als höchſte Form der Perſönlichkeit nur ein Faktor, wenn auch ein wichtiger iſt.
Die zur unendlichen Entwicklung beſtimmte Perſönlichkeit iſt zugleich unfähig, ſich nur durch ſich ſelbſt zur Verwirklichung ihrer eigenen Idee hinaufzuarbeiten. Sie iſt an ſich, in ihrem innerſten Weſen ungemeſſen und unendlich. Das einfache Verſtändniß dieſer gewaltigen Thatſache drückt dieß in der Ahnung der individuellen Unſterblichkeit aus. Die Wiſſenſchaft formulirt es als die „reine Selbſtbeſtimmung.“ Allein die Perſönlichkeit iſt zugleich in ihrer Wirklichkeit faſt unendlich begränzt und unmächtig; die Wiſſenſchaft ſagt, ſie ſei auf allen Punkten „mit dem Maße umgeben.“ In tauſend verſchiedenen Geſtalten erſcheint im Einzel- wie im Geſammtleben das Gefühl dieſes Widerſpruches. Seine Löſung iſt die Lehre von der Ethik; der Kampf, in dem ſie gefunden wird, iſt das ſittliche Pathos; ſein Verſtändniß aber iſt die Grundlage des organiſchen Verſtändniſſes jedes Theiles und jeder Funktion im perſönlichen Leben.
Die Logik dieſes Verſtändniſſes, ſo weit ſie hierher gehört, iſt folgende.
Jedes Streben nach Löſung jenes Widerſpruches in der Erfüllung der perſönlichen Beſtimmung muß, wegen der gegebenen Begränzung unſerer Kräfte, zu ſeiner erſten und unabweisbaren Bedingung, im Gebiete dieſer perſönlichen Kräfte die Unendlichkeit wieder herſtellen, welche dem Einzelnen fehlt. Das nun geſchieht formell durch die unendliche Vielheit der menſchlichen Perſönlichkeiten. Allein dieſe reicht an ſich durch ihr bloßes Daſein nicht aus. Es muß vielmehr für den Einzelnen dieſe Vielheit wirklich zu jener Erfüllung ſeiner eigenen Kraft werden, die ihm fehlt; das nun hat wiederum zur Vorausſetzung, daß die Vielheit durch das Auftreten dieſer für jedes Glied derſelben gel- tende Aufgabe zuerſt eine Einheit werde. Wir nennen alle Geſtalten dieſer Einheit der Vielheit, inſofern ſie eben durch jenes Weſen der Perſönlichkeit geſetzt iſt, eine Gemeinſchaft. Der lebendige Inhalt der Gemeinſchaft, oder das Leben derſelben, erſcheint daher an und für ſich als eine unbedingte, das iſt durch das abſolute Weſen der Perſön- lichkeit ſelbſt geſetzte Bedingung für das Leben der letzteren. Ohne den Begriff und das Daſein der Gemeinſchaft iſt der Einzelne ein abſoluter, unlösbarer Widerſpruch.
Iſt nun dieſe Gemeinſchaft ihrem organiſchen Begriffe nach eine abſolute Bedingung für das Leben der Perſönlichkeit, ſo iſt ſie eben dadurch ſelbſt etwas Selbſtbedingtes. Das aber heißt, Perſönlichkeit ſein. Die Gemeinſchaft als Einheit der Perſönlichkeiten wird daher zur perſönlichen Einheit. Sie wird ſelbſt Perſönlichkeit. Und dieſe Gemeinſchaft der Menſchen als Perſönlichkeit iſt eben der Staat.
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deſſen Löſung ſelbſt der Staat als höchſte Form der Perſönlichkeit nur
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Die zur unendlichen Entwicklung beſtimmte Perſönlichkeit iſt zugleich
unfähig, ſich nur durch ſich ſelbſt zur Verwirklichung ihrer eigenen Idee
hinaufzuarbeiten. Sie iſt an ſich, in ihrem innerſten Weſen ungemeſſen
und unendlich. Das einfache Verſtändniß dieſer gewaltigen Thatſache
drückt dieß in der Ahnung der individuellen Unſterblichkeit aus. Die
Wiſſenſchaft formulirt es als die „reine Selbſtbeſtimmung.“ Allein die
Perſönlichkeit iſt zugleich in ihrer Wirklichkeit faſt unendlich begränzt
und unmächtig; die Wiſſenſchaft ſagt, ſie ſei auf allen Punkten „mit
dem Maße umgeben.“ In tauſend verſchiedenen Geſtalten erſcheint im
Einzel- wie im Geſammtleben das Gefühl dieſes Widerſpruches. Seine
Löſung iſt die Lehre von der Ethik; der Kampf, in dem ſie gefunden
wird, iſt das ſittliche Pathos; ſein Verſtändniß aber iſt die Grundlage
des organiſchen Verſtändniſſes jedes Theiles und jeder Funktion im
perſönlichen Leben.
Die Logik dieſes Verſtändniſſes, ſo weit ſie hierher gehört, iſt folgende.
Jedes Streben nach Löſung jenes Widerſpruches in der Erfüllung
der perſönlichen Beſtimmung muß, wegen der gegebenen Begränzung
unſerer Kräfte, zu ſeiner erſten und unabweisbaren Bedingung, im
Gebiete dieſer perſönlichen Kräfte die Unendlichkeit wieder herſtellen,
welche dem Einzelnen fehlt. Das nun geſchieht formell durch die
unendliche Vielheit der menſchlichen Perſönlichkeiten. Allein dieſe reicht
an ſich durch ihr bloßes Daſein nicht aus. Es muß vielmehr für den
Einzelnen dieſe Vielheit wirklich zu jener Erfüllung ſeiner eigenen Kraft
werden, die ihm fehlt; das nun hat wiederum zur Vorausſetzung, daß
die Vielheit durch das Auftreten dieſer für jedes Glied derſelben gel-
tende Aufgabe zuerſt eine Einheit werde. Wir nennen alle Geſtalten
dieſer Einheit der Vielheit, inſofern ſie eben durch jenes Weſen der
Perſönlichkeit geſetzt iſt, eine Gemeinſchaft. Der lebendige Inhalt
der Gemeinſchaft, oder das Leben derſelben, erſcheint daher an und für
ſich als eine unbedingte, das iſt durch das abſolute Weſen der Perſön-
lichkeit ſelbſt geſetzte Bedingung für das Leben der letzteren. Ohne den
Begriff und das Daſein der Gemeinſchaft iſt der Einzelne ein abſoluter,
unlösbarer Widerſpruch.
Iſt nun dieſe Gemeinſchaft ihrem organiſchen Begriffe nach eine
abſolute Bedingung für das Leben der Perſönlichkeit, ſo iſt ſie eben
dadurch ſelbſt etwas Selbſtbedingtes. Das aber heißt, Perſönlichkeit
ſein. Die Gemeinſchaft als Einheit der Perſönlichkeiten wird daher
zur perſönlichen Einheit. Sie wird ſelbſt Perſönlichkeit. Und dieſe
Gemeinſchaft der Menſchen als Perſönlichkeit iſt eben der Staat.
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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866, S. 44. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre02_1866/66>, abgerufen am 23.02.2025.
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