Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 6. Stuttgart, 1868.

Bild:
<< vorherige Seite

Ausbildung gebracht hat, welche alles ähnliche auf dem Continent weit
übertrifft. In der That war es nicht zweifelhaft, daß nach den obigen
Principien jeder Verleger und Schriftsteller ganz in der Hand der Ge-
richte und ihres "temper" war, auch wenn er in Darstellung und Wort
noch so vorsichtig jede Beleidigung oder Provocation vermieden hatte.
Auch war es bei dem ehrlichen englischen Geschworenengerichte ein natür-
liches Bedürfniß, für sein Urtheil über die eben angeklagten Druckwerke
eine objektiv geltende Richtschnur zu haben, um die Gränze der Straf-
barkeit bestimmen zu können, die nach dem obigen Grundsatze ja gänz-
lich verschwindet. Daher geht denn fast gleichzeitig neben dieser Gesetz-
gebung eine zweite einher, welche es versucht, das Strafbare von dem
Nichtstrafbaren vermöge äußerer Merkmale zu scheiden. So entsteht der
Begriff des "Libel." Libell ist das durch seinen einzelnen Inhalt straf-
bare Druckwerk. Das erste sehr merkwürdige Gesetz in dieser Richtung
ist das Stat. 60. Georg. III. und Georg. IV. 8, in welchem jedes
Druckwerk strafbar erklärt wird, "wodurch man die Person des Königs,
seine Erben und Nachfolger, oder den Regenten, oder die Regierung
und Verfassung des vereinigten Königreiches, oder eines der Parla-
mentshäuser in Haß und Verachtung zu bringen trachtet" (lag
dem Bundesbeschluß von 1854 dieses Statut vor?). Ein solches Libell
ist daher ein Friedensbruch, und in Folge dessen kann es nunmehr
gar zweimal zugleich verfolgt werden durch Civilklage (action on
the case
mit indictment) und durch information. Die Strafen sind
sehr hart (Homersham-Cox, S. 259), der übrigens von dem Wesen
der Preßfreiheit juristisch keine Ahnung hat und das entscheidende Stat. 11.
Vict.
12 gar nicht kennt. Es ist dieß das Gesetz, welches dem Straf-
recht des Geistes der Presse seinen politischen Inhalt gab. Dieß
Gesetz, auf der unumschränkten Herrschaft der ständischen Parlaments-
elemente ruhend und jeden Kampf für eine Reform strafrechtlich ge-
fährdend, besteht bis zum Jahre 1830. Und wieder schlagen die Wellen
der französischen Revolution an die Küsten Englands. Der Drang nach
einer freieren Volksvertretung wird unwiderstehlich. Es ist nicht mehr
möglich, jeden Versuch, die "Regierung" oder eines der beiden Parla-
mentshäuser anzugreifen, durch eine information vom Staatsanwalt
aus zu verfolgen, und diesen Geist der Presse nach 60. Georg. III.
zu verfolgen. Aber die Reformbewegung siegt nur halb, und der Ge-
danke, den Geist der Presse gesetzlich frei zu geben, gelangt daher auch
nur halb zur Geltung. Das Gebiet, auf welchem diese Bewegung
nun ausgekämpft wird, ist der Begriff des "Libell". Die Frage ist die,
ob die Tendenz als solche, oder der Einzelausdruck aus einem Druck-
werke ein "Libell" mache. Das erste war bis jetzt Rechtens neben dem

Stein, die Verwaltungslehre. VI. 9

Ausbildung gebracht hat, welche alles ähnliche auf dem Continent weit
übertrifft. In der That war es nicht zweifelhaft, daß nach den obigen
Principien jeder Verleger und Schriftſteller ganz in der Hand der Ge-
richte und ihres „temper“ war, auch wenn er in Darſtellung und Wort
noch ſo vorſichtig jede Beleidigung oder Provocation vermieden hatte.
Auch war es bei dem ehrlichen engliſchen Geſchworenengerichte ein natür-
liches Bedürfniß, für ſein Urtheil über die eben angeklagten Druckwerke
eine objektiv geltende Richtſchnur zu haben, um die Gränze der Straf-
barkeit beſtimmen zu können, die nach dem obigen Grundſatze ja gänz-
lich verſchwindet. Daher geht denn faſt gleichzeitig neben dieſer Geſetz-
gebung eine zweite einher, welche es verſucht, das Strafbare von dem
Nichtſtrafbaren vermöge äußerer Merkmale zu ſcheiden. So entſteht der
Begriff des Libel.“ Libell iſt das durch ſeinen einzelnen Inhalt ſtraf-
bare Druckwerk. Das erſte ſehr merkwürdige Geſetz in dieſer Richtung
iſt das Stat. 60. Georg. III. und Georg. IV. 8, in welchem jedes
Druckwerk ſtrafbar erklärt wird, „wodurch man die Perſon des Königs,
ſeine Erben und Nachfolger, oder den Regenten, oder die Regierung
und Verfaſſung des vereinigten Königreiches, oder eines der Parla-
mentshäuſer in Haß und Verachtung zu bringen trachtet“ (lag
dem Bundesbeſchluß von 1854 dieſes Statut vor?). Ein ſolches Libell
iſt daher ein Friedensbruch, und in Folge deſſen kann es nunmehr
gar zweimal zugleich verfolgt werden durch Civilklage (action on
the case
mit indictment) und durch information. Die Strafen ſind
ſehr hart (Homersham-Cox, S. 259), der übrigens von dem Weſen
der Preßfreiheit juriſtiſch keine Ahnung hat und das entſcheidende Stat. 11.
Vict.
12 gar nicht kennt. Es iſt dieß das Geſetz, welches dem Straf-
recht des Geiſtes der Preſſe ſeinen politiſchen Inhalt gab. Dieß
Geſetz, auf der unumſchränkten Herrſchaft der ſtändiſchen Parlaments-
elemente ruhend und jeden Kampf für eine Reform ſtrafrechtlich ge-
fährdend, beſteht bis zum Jahre 1830. Und wieder ſchlagen die Wellen
der franzöſiſchen Revolution an die Küſten Englands. Der Drang nach
einer freieren Volksvertretung wird unwiderſtehlich. Es iſt nicht mehr
möglich, jeden Verſuch, die „Regierung“ oder eines der beiden Parla-
mentshäuſer anzugreifen, durch eine information vom Staatsanwalt
aus zu verfolgen, und dieſen Geiſt der Preſſe nach 60. Georg. III.
zu verfolgen. Aber die Reformbewegung ſiegt nur halb, und der Ge-
danke, den Geiſt der Preſſe geſetzlich frei zu geben, gelangt daher auch
nur halb zur Geltung. Das Gebiet, auf welchem dieſe Bewegung
nun ausgekämpft wird, iſt der Begriff des „Libell“. Die Frage iſt die,
ob die Tendenz als ſolche, oder der Einzelausdruck aus einem Druck-
werke ein „Libell“ mache. Das erſte war bis jetzt Rechtens neben dem

Stein, die Verwaltungslehre. VI. 9
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0145" n="129"/>
Ausbildung gebracht hat, welche alles ähnliche auf dem Continent weit<lb/>
übertrifft. In der That war es nicht zweifelhaft, daß nach den obigen<lb/>
Principien jeder Verleger und Schrift&#x017F;teller ganz in der Hand der Ge-<lb/>
richte und ihres <hi rendition="#aq">&#x201E;temper&#x201C;</hi> war, auch wenn er in Dar&#x017F;tellung und Wort<lb/>
noch &#x017F;o vor&#x017F;ichtig jede Beleidigung oder Provocation vermieden hatte.<lb/>
Auch war es bei dem ehrlichen engli&#x017F;chen Ge&#x017F;chworenengerichte ein natür-<lb/>
liches Bedürfniß, für &#x017F;ein Urtheil über die eben angeklagten Druckwerke<lb/>
eine objektiv geltende Richt&#x017F;chnur zu haben, um die Gränze der Straf-<lb/>
barkeit be&#x017F;timmen zu können, die nach dem obigen Grund&#x017F;atze ja gänz-<lb/>
lich ver&#x017F;chwindet. Daher geht denn fa&#x017F;t gleichzeitig neben die&#x017F;er Ge&#x017F;etz-<lb/>
gebung eine zweite einher, welche es ver&#x017F;ucht, das Strafbare von dem<lb/>
Nicht&#x017F;trafbaren vermöge äußerer Merkmale zu &#x017F;cheiden. So ent&#x017F;teht der<lb/>
Begriff des <hi rendition="#aq">&#x201E;<hi rendition="#g">Libel</hi>.&#x201C;</hi> Libell i&#x017F;t das durch &#x017F;einen einzelnen Inhalt &#x017F;traf-<lb/>
bare Druckwerk. Das er&#x017F;te &#x017F;ehr merkwürdige Ge&#x017F;etz in die&#x017F;er Richtung<lb/>
i&#x017F;t das <hi rendition="#aq">Stat. 60. Georg. III.</hi> und <hi rendition="#aq">Georg. IV. 8,</hi> in welchem jedes<lb/>
Druckwerk &#x017F;trafbar erklärt wird, &#x201E;wodurch man die Per&#x017F;on des Königs,<lb/>
&#x017F;eine Erben und Nachfolger, oder den Regenten, oder die <hi rendition="#g">Regierung</hi><lb/>
und <hi rendition="#g">Verfa&#x017F;&#x017F;ung</hi> des vereinigten Königreiches, oder eines der Parla-<lb/>
mentshäu&#x017F;er <hi rendition="#g">in Haß und Verachtung zu bringen trachtet</hi>&#x201C; (lag<lb/>
dem Bundesbe&#x017F;chluß von 1854 die&#x017F;es Statut vor?). Ein &#x017F;olches Libell<lb/>
i&#x017F;t daher ein <hi rendition="#g">Friedensbruch</hi>, und in Folge de&#x017F;&#x017F;en kann es nunmehr<lb/>
gar <hi rendition="#g">zweimal zugleich</hi> verfolgt werden durch Civilklage (<hi rendition="#aq">action on<lb/>
the case</hi> mit <hi rendition="#aq">indictment</hi>) <hi rendition="#g">und</hi> durch <hi rendition="#aq">information.</hi> Die Strafen &#x017F;ind<lb/>
&#x017F;ehr hart (<hi rendition="#g">Homersham-Cox</hi>, S. 259), der übrigens von dem We&#x017F;en<lb/>
der Preßfreiheit juri&#x017F;ti&#x017F;ch keine Ahnung hat und das ent&#x017F;cheidende <hi rendition="#aq">Stat. 11.<lb/>
Vict.</hi> 12 gar nicht kennt. Es i&#x017F;t dieß das Ge&#x017F;etz, welches dem Straf-<lb/>
recht des Gei&#x017F;tes der Pre&#x017F;&#x017F;e &#x017F;einen <hi rendition="#g">politi&#x017F;chen</hi> Inhalt gab. Dieß<lb/>
Ge&#x017F;etz, auf der unum&#x017F;chränkten Herr&#x017F;chaft der &#x017F;tändi&#x017F;chen Parlaments-<lb/>
elemente ruhend und jeden Kampf für eine Reform &#x017F;trafrechtlich ge-<lb/>
fährdend, be&#x017F;teht bis zum Jahre 1830. Und wieder &#x017F;chlagen die Wellen<lb/>
der franzö&#x017F;i&#x017F;chen Revolution an die Kü&#x017F;ten Englands. Der Drang nach<lb/>
einer freieren Volksvertretung wird unwider&#x017F;tehlich. Es i&#x017F;t nicht mehr<lb/>
möglich, jeden Ver&#x017F;uch, die &#x201E;Regierung&#x201C; oder eines der beiden Parla-<lb/>
mentshäu&#x017F;er anzugreifen, durch eine <hi rendition="#aq">information</hi> vom Staatsanwalt<lb/>
aus zu verfolgen, und <hi rendition="#g">die&#x017F;en</hi> Gei&#x017F;t der Pre&#x017F;&#x017F;e nach 60. <hi rendition="#aq">Georg. III.</hi><lb/>
zu verfolgen. Aber die Reformbewegung &#x017F;iegt nur halb, und der Ge-<lb/>
danke, den Gei&#x017F;t der Pre&#x017F;&#x017F;e ge&#x017F;etzlich frei zu geben, gelangt daher auch<lb/>
nur halb zur Geltung. Das Gebiet, auf welchem <hi rendition="#g">die&#x017F;e</hi> Bewegung<lb/>
nun ausgekämpft wird, i&#x017F;t der Begriff des &#x201E;Libell&#x201C;. Die Frage i&#x017F;t die,<lb/>
ob die Tendenz als &#x017F;olche, oder der Einzelausdruck aus einem Druck-<lb/>
werke ein &#x201E;Libell&#x201C; mache. Das er&#x017F;te war bis jetzt Rechtens neben dem<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#g">Stein</hi>, die Verwaltungslehre. <hi rendition="#aq">VI.</hi> 9</fw><lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[129/0145] Ausbildung gebracht hat, welche alles ähnliche auf dem Continent weit übertrifft. In der That war es nicht zweifelhaft, daß nach den obigen Principien jeder Verleger und Schriftſteller ganz in der Hand der Ge- richte und ihres „temper“ war, auch wenn er in Darſtellung und Wort noch ſo vorſichtig jede Beleidigung oder Provocation vermieden hatte. Auch war es bei dem ehrlichen engliſchen Geſchworenengerichte ein natür- liches Bedürfniß, für ſein Urtheil über die eben angeklagten Druckwerke eine objektiv geltende Richtſchnur zu haben, um die Gränze der Straf- barkeit beſtimmen zu können, die nach dem obigen Grundſatze ja gänz- lich verſchwindet. Daher geht denn faſt gleichzeitig neben dieſer Geſetz- gebung eine zweite einher, welche es verſucht, das Strafbare von dem Nichtſtrafbaren vermöge äußerer Merkmale zu ſcheiden. So entſteht der Begriff des „Libel.“ Libell iſt das durch ſeinen einzelnen Inhalt ſtraf- bare Druckwerk. Das erſte ſehr merkwürdige Geſetz in dieſer Richtung iſt das Stat. 60. Georg. III. und Georg. IV. 8, in welchem jedes Druckwerk ſtrafbar erklärt wird, „wodurch man die Perſon des Königs, ſeine Erben und Nachfolger, oder den Regenten, oder die Regierung und Verfaſſung des vereinigten Königreiches, oder eines der Parla- mentshäuſer in Haß und Verachtung zu bringen trachtet“ (lag dem Bundesbeſchluß von 1854 dieſes Statut vor?). Ein ſolches Libell iſt daher ein Friedensbruch, und in Folge deſſen kann es nunmehr gar zweimal zugleich verfolgt werden durch Civilklage (action on the case mit indictment) und durch information. Die Strafen ſind ſehr hart (Homersham-Cox, S. 259), der übrigens von dem Weſen der Preßfreiheit juriſtiſch keine Ahnung hat und das entſcheidende Stat. 11. Vict. 12 gar nicht kennt. Es iſt dieß das Geſetz, welches dem Straf- recht des Geiſtes der Preſſe ſeinen politiſchen Inhalt gab. Dieß Geſetz, auf der unumſchränkten Herrſchaft der ſtändiſchen Parlaments- elemente ruhend und jeden Kampf für eine Reform ſtrafrechtlich ge- fährdend, beſteht bis zum Jahre 1830. Und wieder ſchlagen die Wellen der franzöſiſchen Revolution an die Küſten Englands. Der Drang nach einer freieren Volksvertretung wird unwiderſtehlich. Es iſt nicht mehr möglich, jeden Verſuch, die „Regierung“ oder eines der beiden Parla- mentshäuſer anzugreifen, durch eine information vom Staatsanwalt aus zu verfolgen, und dieſen Geiſt der Preſſe nach 60. Georg. III. zu verfolgen. Aber die Reformbewegung ſiegt nur halb, und der Ge- danke, den Geiſt der Preſſe geſetzlich frei zu geben, gelangt daher auch nur halb zur Geltung. Das Gebiet, auf welchem dieſe Bewegung nun ausgekämpft wird, iſt der Begriff des „Libell“. Die Frage iſt die, ob die Tendenz als ſolche, oder der Einzelausdruck aus einem Druck- werke ein „Libell“ mache. Das erſte war bis jetzt Rechtens neben dem Stein, die Verwaltungslehre. VI. 9

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre06_1868
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre06_1868/145
Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 6. Stuttgart, 1868, S. 129. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre06_1868/145>, abgerufen am 12.05.2024.