Es wird jetzt dem freien Bauern gegenüber das, was bis dahin der König gewesen, der Träger und Vertreter der Staatsidee und der In- haber aller ihrer Rechte. Der Dienst gegen den König hat aufgehört, und die Herrschaft des Staats ist die Herrschaft des Herren. Aber principiell ist durch denselben Proceß eigentlich auch der freie Bauer souverain geworden, da er doch zuletzt nur unter der Gewalt und dem Recht des Königs stand. Mit dem Wegfallen des Königthums stehen daher jetzt zwei herrschende Klassen neben einander, zwar mit gleichem Recht, aber mit sehr verschiedenen Machtverhältnissen. Der Kampf zwischen beiden um die Herrschaft war damit unvermeidlich, denn der Staat mit seiner Gewalt mangelte, um ihn aufzuhalten. Dieser Kampf wird nun im 10. und 11. Jahrhundert ziemlich auf dem ganzen Continente ausgekämpft und zwar durch das Faust- und Fehderecht. Der Charakter der Epoche des Fehderechts, dessen Natur man nirgends deutlicher sieht als in Frankreich (s. Stein, französische Rechtsgeschichte, die ersten Abtheilungen) besteht darin, daß vermöge des Verschwindens der Staatsidee die Gewalt der Einzelnen gegeneinander zu einem, sogar positiv ausgearbeiteten, Rechtssystem wird. Diese Gewalt wird aber nicht bloß als "Fehde" von einem Grundherrn gegen den andern ausgeübt, sondern eben so sehr von dem Grundherrn gegen die Glieder der zweiten herrschenden Klasse, die freien Bauern. Sie werden jetzt dem Herrn unterworfen, theils durch physische Gewalt, theils unterwarfen sie sich freiwillig. Die einzelnen freien Bauernhöfe, die ganzen freien Dörfer werden den Herrschaften incorporirt; aus den beiden Grundformen des Besitzes, dem Herrnbesitz und dem alten Geschlechterbesitz der freien Bauern, entsteht Eine; der Herr stellt sich im Namen des alten König- thums an die Spitze aller öffentlichen Funktionen und Rechte des Dorfes und Gaues; Gericht, Buße und Polizei werden sein; und dieser, durch diese Unterwerfung und Einverleibung des alten Geschlechterbauernthums unter die Herrschaft und den Herrn entstehende öffentlich rechtliche Körper ist nun die Grundherrlichkeit.
Diese Grundherrlichkeit, ihrem Wesen nach in ganz Europa gleich, ist nun aber in ihrem einzelnen Inhalt sehr verschieden gestaltet. Dieß nun beruht zuerst darauf, daß die ihr unterworfenen Gesellschafts- gruppen nicht Eine in ihrer Rechtlosigkeit gleiche Masse bildete, sondern wie gesagt, selbst aus einer herrschenden und beherrschten Klasse bestand. Form und Inhalt der Unterwerfung unter die Grundherrlichkeit mußte daher je nach den Verhältnissen sehr verschieden erscheinen. Doch treten natürlich hier sofort die beiden Elemente alles persönlichen Lebens, die Person und der Besitz als dasjenige in den Vordergrund, was für jene innere Rechtsgestaltung der Grundherrlichkeiten die entscheidenden
Es wird jetzt dem freien Bauern gegenüber das, was bis dahin der König geweſen, der Träger und Vertreter der Staatsidee und der In- haber aller ihrer Rechte. Der Dienſt gegen den König hat aufgehört, und die Herrſchaft des Staats iſt die Herrſchaft des Herren. Aber principiell iſt durch denſelben Proceß eigentlich auch der freie Bauer ſouverain geworden, da er doch zuletzt nur unter der Gewalt und dem Recht des Königs ſtand. Mit dem Wegfallen des Königthums ſtehen daher jetzt zwei herrſchende Klaſſen neben einander, zwar mit gleichem Recht, aber mit ſehr verſchiedenen Machtverhältniſſen. Der Kampf zwiſchen beiden um die Herrſchaft war damit unvermeidlich, denn der Staat mit ſeiner Gewalt mangelte, um ihn aufzuhalten. Dieſer Kampf wird nun im 10. und 11. Jahrhundert ziemlich auf dem ganzen Continente ausgekämpft und zwar durch das Fauſt- und Fehderecht. Der Charakter der Epoche des Fehderechts, deſſen Natur man nirgends deutlicher ſieht als in Frankreich (ſ. Stein, franzöſiſche Rechtsgeſchichte, die erſten Abtheilungen) beſteht darin, daß vermöge des Verſchwindens der Staatsidee die Gewalt der Einzelnen gegeneinander zu einem, ſogar poſitiv ausgearbeiteten, Rechtsſyſtem wird. Dieſe Gewalt wird aber nicht bloß als „Fehde“ von einem Grundherrn gegen den andern ausgeübt, ſondern eben ſo ſehr von dem Grundherrn gegen die Glieder der zweiten herrſchenden Klaſſe, die freien Bauern. Sie werden jetzt dem Herrn unterworfen, theils durch phyſiſche Gewalt, theils unterwarfen ſie ſich freiwillig. Die einzelnen freien Bauernhöfe, die ganzen freien Dörfer werden den Herrſchaften incorporirt; aus den beiden Grundformen des Beſitzes, dem Herrnbeſitz und dem alten Geſchlechterbeſitz der freien Bauern, entſteht Eine; der Herr ſtellt ſich im Namen des alten König- thums an die Spitze aller öffentlichen Funktionen und Rechte des Dorfes und Gaues; Gericht, Buße und Polizei werden ſein; und dieſer, durch dieſe Unterwerfung und Einverleibung des alten Geſchlechterbauernthums unter die Herrſchaft und den Herrn entſtehende öffentlich rechtliche Körper iſt nun die Grundherrlichkeit.
Dieſe Grundherrlichkeit, ihrem Weſen nach in ganz Europa gleich, iſt nun aber in ihrem einzelnen Inhalt ſehr verſchieden geſtaltet. Dieß nun beruht zuerſt darauf, daß die ihr unterworfenen Geſellſchafts- gruppen nicht Eine in ihrer Rechtloſigkeit gleiche Maſſe bildete, ſondern wie geſagt, ſelbſt aus einer herrſchenden und beherrſchten Klaſſe beſtand. Form und Inhalt der Unterwerfung unter die Grundherrlichkeit mußte daher je nach den Verhältniſſen ſehr verſchieden erſcheinen. Doch treten natürlich hier ſofort die beiden Elemente alles perſönlichen Lebens, die Perſon und der Beſitz als dasjenige in den Vordergrund, was für jene innere Rechtsgeſtaltung der Grundherrlichkeiten die entſcheidenden
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Es wird jetzt dem freien Bauern gegenüber das, was bis dahin der
König geweſen, der Träger und Vertreter der Staatsidee und der In-
haber aller ihrer Rechte. Der Dienſt gegen den König hat aufgehört,
und die Herrſchaft des Staats iſt die Herrſchaft des Herren. Aber
principiell iſt durch denſelben Proceß eigentlich auch der freie Bauer
ſouverain geworden, da er doch zuletzt nur unter der Gewalt und dem
Recht des Königs ſtand. Mit dem Wegfallen des Königthums ſtehen
daher jetzt zwei herrſchende Klaſſen neben einander, zwar mit gleichem
Recht, aber mit ſehr verſchiedenen Machtverhältniſſen. Der Kampf
zwiſchen beiden um die Herrſchaft war damit unvermeidlich, denn der
Staat mit ſeiner Gewalt mangelte, um ihn aufzuhalten. Dieſer
Kampf wird nun im 10. und 11. Jahrhundert ziemlich auf dem ganzen
Continente ausgekämpft und zwar durch das Fauſt- und Fehderecht.
Der Charakter der Epoche des Fehderechts, deſſen Natur man nirgends
deutlicher ſieht als in Frankreich (ſ. Stein, franzöſiſche Rechtsgeſchichte,
die erſten Abtheilungen) beſteht darin, daß vermöge des Verſchwindens
der Staatsidee die Gewalt der Einzelnen gegeneinander zu einem, ſogar
poſitiv ausgearbeiteten, Rechtsſyſtem wird. Dieſe Gewalt wird aber nicht
bloß als „Fehde“ von einem Grundherrn gegen den andern ausgeübt,
ſondern eben ſo ſehr von dem Grundherrn gegen die Glieder der zweiten
herrſchenden Klaſſe, die freien Bauern. Sie werden jetzt dem Herrn
unterworfen, theils durch phyſiſche Gewalt, theils unterwarfen ſie ſich
freiwillig. Die einzelnen freien Bauernhöfe, die ganzen freien Dörfer
werden den Herrſchaften incorporirt; aus den beiden Grundformen des
Beſitzes, dem Herrnbeſitz und dem alten Geſchlechterbeſitz der freien
Bauern, entſteht Eine; der Herr ſtellt ſich im Namen des alten König-
thums an die Spitze aller öffentlichen Funktionen und Rechte des Dorfes
und Gaues; Gericht, Buße und Polizei werden ſein; und dieſer, durch
dieſe Unterwerfung und Einverleibung des alten Geſchlechterbauernthums
unter die Herrſchaft und den Herrn entſtehende öffentlich rechtliche
Körper iſt nun die Grundherrlichkeit.
Dieſe Grundherrlichkeit, ihrem Weſen nach in ganz Europa gleich,
iſt nun aber in ihrem einzelnen Inhalt ſehr verſchieden geſtaltet. Dieß
nun beruht zuerſt darauf, daß die ihr unterworfenen Geſellſchafts-
gruppen nicht Eine in ihrer Rechtloſigkeit gleiche Maſſe bildete, ſondern
wie geſagt, ſelbſt aus einer herrſchenden und beherrſchten Klaſſe beſtand.
Form und Inhalt der Unterwerfung unter die Grundherrlichkeit mußte
daher je nach den Verhältniſſen ſehr verſchieden erſcheinen. Doch treten
natürlich hier ſofort die beiden Elemente alles perſönlichen Lebens, die
Perſon und der Beſitz als dasjenige in den Vordergrund, was für
jene innere Rechtsgeſtaltung der Grundherrlichkeiten die entſcheidenden
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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 7. Stuttgart, 1868, S. 98. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre07_1868/116>, abgerufen am 24.11.2024.
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