durch welche die großen geistigen Aufgaben der Menschheit zur Aufgabe von Gemeinschaften werden, und dadurch das ganze Leben jedes ein- zelnen Menschen, der sich einer solchen Aufgabe widmet, mit allen seinen Beziehungen den Forderungen derselben unterordnet. Die Verschieden- heit der Gesellschaftsordnungen entsteht nun dadurch, daß in den ver- schiedenen Stadien der Entwicklung der Menschheit das Bewußtsein über Wesen und Inhalt dieser Aufgaben, so wie über die in dem Menschen liegenden Bedingungen ihrer Erfüllung sich herausbildet. Die Entwick- lung der Gesellschaftsordnungen ist daher an sich eine unendlich mannich- fache; allein da die erste Bedingung aller Erreichung der höchsten Zwecke die bewußte und thätige Einheit der Menschen ist, so werden die Ge- sellschaftsordnungen als die Grundformen dieser Einheit des Menschen für die höchsten Zwecke erscheinen. Darnach unterscheiden wir den Be- griff der Geschlechterordnung, in welcher diese Einheit als die natür- liche der Familie dasteht, die ständische Ordnung, in welcher sie durch den bewußten Willen der Berufsgenossen erzeugt wird, und die staats- bürgerliche Ordnung, in welcher sie auf dem freien Willen der selb- ständigen Individualität beruht. Jede dieser Ordnungen will immer dasselbe, aber sie will es in anderer Weise; in der Geschlechterordnung beruht die Entwicklung auf der Unterordnung des Einzelnen unter das Altershaupt, in der ständischen Ordnung auf der Unterwerfung unter die Berufsgemeinschaft, in der staatsbürgerlichen Ordnung auf der freien Hingabe an den selbstgesetzten Lebenszweck und der Theilnahme an dem freien Verein. Dieser Grundsatz nun, nach welchem jeder Einzelne in jeder dieser Ordnung Platz und Aufgabe für seine Theilnahme an der höchsten geistigen Arbeit der Menschheit empfängt, bildet demnach das Princip der einzelnen Gesellschaftsordnung.
Dieses Princip fordert, daß sich alle übrigen Lebensverhältnisse des Einzelnen ihm unterordnen. Es erzeugt daher gemeingültige Sätze für das Leben des Einzelnen, deren Befolgung als Bedingung für die Erreichung der höchsten Zwecke für Alle anerkannt wird. Diese Sätze, durch Alle für jeden Einzelnen im Namen jener höchsten Güter gefordert, werden damit zum Recht. Jede Gesellschaftsordnung bildet sich daher ihr eigenes Rechtssystem, dessen Princip die Unterordnung des Lebens des Einzelnen unter die bestimmte Ordnung der Gesellschaft und ihre Forderungen ist. So entsteht das gesellschaftliche Recht, als die- jenige Summe von Beschränkungen des Rechts der selbstän- digen Persönlichkeit, welche nicht mehr durch die Idee des per- sönlichen Staats, sondern durch das specielle Princip der einzelnen Gesellschaftsordnungen gefordert, und als Bedingung seiner Verwirk- lichung angesehen wird.
durch welche die großen geiſtigen Aufgaben der Menſchheit zur Aufgabe von Gemeinſchaften werden, und dadurch das ganze Leben jedes ein- zelnen Menſchen, der ſich einer ſolchen Aufgabe widmet, mit allen ſeinen Beziehungen den Forderungen derſelben unterordnet. Die Verſchieden- heit der Geſellſchaftsordnungen entſteht nun dadurch, daß in den ver- ſchiedenen Stadien der Entwicklung der Menſchheit das Bewußtſein über Weſen und Inhalt dieſer Aufgaben, ſo wie über die in dem Menſchen liegenden Bedingungen ihrer Erfüllung ſich herausbildet. Die Entwick- lung der Geſellſchaftsordnungen iſt daher an ſich eine unendlich mannich- fache; allein da die erſte Bedingung aller Erreichung der höchſten Zwecke die bewußte und thätige Einheit der Menſchen iſt, ſo werden die Ge- ſellſchaftsordnungen als die Grundformen dieſer Einheit des Menſchen für die höchſten Zwecke erſcheinen. Darnach unterſcheiden wir den Be- griff der Geſchlechterordnung, in welcher dieſe Einheit als die natür- liche der Familie daſteht, die ſtändiſche Ordnung, in welcher ſie durch den bewußten Willen der Berufsgenoſſen erzeugt wird, und die ſtaats- bürgerliche Ordnung, in welcher ſie auf dem freien Willen der ſelb- ſtändigen Individualität beruht. Jede dieſer Ordnungen will immer daſſelbe, aber ſie will es in anderer Weiſe; in der Geſchlechterordnung beruht die Entwicklung auf der Unterordnung des Einzelnen unter das Altershaupt, in der ſtändiſchen Ordnung auf der Unterwerfung unter die Berufsgemeinſchaft, in der ſtaatsbürgerlichen Ordnung auf der freien Hingabe an den ſelbſtgeſetzten Lebenszweck und der Theilnahme an dem freien Verein. Dieſer Grundſatz nun, nach welchem jeder Einzelne in jeder dieſer Ordnung Platz und Aufgabe für ſeine Theilnahme an der höchſten geiſtigen Arbeit der Menſchheit empfängt, bildet demnach das Princip der einzelnen Geſellſchaftsordnung.
Dieſes Princip fordert, daß ſich alle übrigen Lebensverhältniſſe des Einzelnen ihm unterordnen. Es erzeugt daher gemeingültige Sätze für das Leben des Einzelnen, deren Befolgung als Bedingung für die Erreichung der höchſten Zwecke für Alle anerkannt wird. Dieſe Sätze, durch Alle für jeden Einzelnen im Namen jener höchſten Güter gefordert, werden damit zum Recht. Jede Geſellſchaftsordnung bildet ſich daher ihr eigenes Rechtsſyſtem, deſſen Princip die Unterordnung des Lebens des Einzelnen unter die beſtimmte Ordnung der Geſellſchaft und ihre Forderungen iſt. So entſteht das geſellſchaftliche Recht, als die- jenige Summe von Beſchränkungen des Rechts der ſelbſtän- digen Perſönlichkeit, welche nicht mehr durch die Idee des per- ſönlichen Staats, ſondern durch das ſpecielle Princip der einzelnen Geſellſchaftsordnungen gefordert, und als Bedingung ſeiner Verwirk- lichung angeſehen wird.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><divn="5"><p><pbfacs="#f0090"n="72"/>
durch welche die großen geiſtigen Aufgaben der Menſchheit zur Aufgabe<lb/>
von Gemeinſchaften werden, und dadurch das ganze Leben jedes ein-<lb/>
zelnen Menſchen, der ſich einer ſolchen Aufgabe widmet, mit allen ſeinen<lb/>
Beziehungen den Forderungen derſelben unterordnet. Die Verſchieden-<lb/>
heit der Geſellſchaftsordnungen entſteht nun dadurch, daß in den ver-<lb/>ſchiedenen Stadien der Entwicklung der Menſchheit das Bewußtſein über<lb/>
Weſen und Inhalt dieſer Aufgaben, ſo wie über die in dem Menſchen<lb/>
liegenden Bedingungen ihrer Erfüllung ſich herausbildet. Die Entwick-<lb/>
lung der Geſellſchaftsordnungen iſt daher an ſich eine unendlich mannich-<lb/>
fache; allein da die <hirendition="#g">erſte</hi> Bedingung aller Erreichung der höchſten Zwecke<lb/>
die bewußte und thätige Einheit der Menſchen iſt, ſo werden die Ge-<lb/>ſellſchaftsordnungen als die Grundformen dieſer Einheit des Menſchen<lb/>
für die höchſten Zwecke erſcheinen. Darnach unterſcheiden wir den Be-<lb/>
griff der Geſchlechterordnung, in welcher dieſe Einheit als die natür-<lb/>
liche der Familie daſteht, die ſtändiſche Ordnung, in welcher ſie durch<lb/>
den bewußten Willen der Berufsgenoſſen erzeugt wird, und die ſtaats-<lb/>
bürgerliche Ordnung, in welcher ſie auf dem freien Willen der ſelb-<lb/>ſtändigen Individualität beruht. Jede dieſer Ordnungen will immer<lb/>
daſſelbe, aber ſie will es in anderer Weiſe; in der Geſchlechterordnung<lb/>
beruht die Entwicklung auf der Unterordnung des Einzelnen unter das<lb/>
Altershaupt, in der ſtändiſchen Ordnung auf der Unterwerfung unter<lb/>
die Berufsgemeinſchaft, in der ſtaatsbürgerlichen Ordnung auf der freien<lb/>
Hingabe an den ſelbſtgeſetzten Lebenszweck und der Theilnahme an dem<lb/>
freien Verein. Dieſer Grundſatz nun, nach welchem jeder Einzelne in<lb/>
jeder dieſer Ordnung Platz und Aufgabe für ſeine Theilnahme an der<lb/>
höchſten geiſtigen Arbeit der Menſchheit empfängt, bildet demnach das<lb/><hirendition="#g">Princip</hi> der einzelnen Geſellſchaftsordnung.</p><lb/><p>Dieſes Princip fordert, daß ſich alle übrigen Lebensverhältniſſe<lb/>
des Einzelnen ihm unterordnen. Es erzeugt daher gemeingültige Sätze<lb/>
für das Leben des Einzelnen, deren Befolgung als Bedingung für die<lb/>
Erreichung der höchſten Zwecke für Alle anerkannt wird. Dieſe Sätze,<lb/>
durch Alle für jeden Einzelnen im Namen jener höchſten Güter gefordert,<lb/>
werden damit zum <hirendition="#g">Recht</hi>. Jede Geſellſchaftsordnung bildet ſich daher<lb/>
ihr eigenes Rechtsſyſtem, deſſen Princip die Unterordnung des Lebens<lb/>
des Einzelnen unter die beſtimmte Ordnung der Geſellſchaft und ihre<lb/>
Forderungen iſt. So entſteht das <hirendition="#g">geſellſchaftliche Recht</hi>, als die-<lb/>
jenige Summe <hirendition="#g">von Beſchränkungen des Rechts der ſelbſtän-<lb/>
digen Perſönlichkeit</hi>, welche nicht mehr durch die Idee des per-<lb/>ſönlichen Staats, ſondern durch das ſpecielle Princip der einzelnen<lb/>
Geſellſchaftsordnungen gefordert, und als Bedingung ſeiner Verwirk-<lb/>
lichung angeſehen wird.</p><lb/></div></div></div></div></div></body></text></TEI>
[72/0090]
durch welche die großen geiſtigen Aufgaben der Menſchheit zur Aufgabe
von Gemeinſchaften werden, und dadurch das ganze Leben jedes ein-
zelnen Menſchen, der ſich einer ſolchen Aufgabe widmet, mit allen ſeinen
Beziehungen den Forderungen derſelben unterordnet. Die Verſchieden-
heit der Geſellſchaftsordnungen entſteht nun dadurch, daß in den ver-
ſchiedenen Stadien der Entwicklung der Menſchheit das Bewußtſein über
Weſen und Inhalt dieſer Aufgaben, ſo wie über die in dem Menſchen
liegenden Bedingungen ihrer Erfüllung ſich herausbildet. Die Entwick-
lung der Geſellſchaftsordnungen iſt daher an ſich eine unendlich mannich-
fache; allein da die erſte Bedingung aller Erreichung der höchſten Zwecke
die bewußte und thätige Einheit der Menſchen iſt, ſo werden die Ge-
ſellſchaftsordnungen als die Grundformen dieſer Einheit des Menſchen
für die höchſten Zwecke erſcheinen. Darnach unterſcheiden wir den Be-
griff der Geſchlechterordnung, in welcher dieſe Einheit als die natür-
liche der Familie daſteht, die ſtändiſche Ordnung, in welcher ſie durch
den bewußten Willen der Berufsgenoſſen erzeugt wird, und die ſtaats-
bürgerliche Ordnung, in welcher ſie auf dem freien Willen der ſelb-
ſtändigen Individualität beruht. Jede dieſer Ordnungen will immer
daſſelbe, aber ſie will es in anderer Weiſe; in der Geſchlechterordnung
beruht die Entwicklung auf der Unterordnung des Einzelnen unter das
Altershaupt, in der ſtändiſchen Ordnung auf der Unterwerfung unter
die Berufsgemeinſchaft, in der ſtaatsbürgerlichen Ordnung auf der freien
Hingabe an den ſelbſtgeſetzten Lebenszweck und der Theilnahme an dem
freien Verein. Dieſer Grundſatz nun, nach welchem jeder Einzelne in
jeder dieſer Ordnung Platz und Aufgabe für ſeine Theilnahme an der
höchſten geiſtigen Arbeit der Menſchheit empfängt, bildet demnach das
Princip der einzelnen Geſellſchaftsordnung.
Dieſes Princip fordert, daß ſich alle übrigen Lebensverhältniſſe
des Einzelnen ihm unterordnen. Es erzeugt daher gemeingültige Sätze
für das Leben des Einzelnen, deren Befolgung als Bedingung für die
Erreichung der höchſten Zwecke für Alle anerkannt wird. Dieſe Sätze,
durch Alle für jeden Einzelnen im Namen jener höchſten Güter gefordert,
werden damit zum Recht. Jede Geſellſchaftsordnung bildet ſich daher
ihr eigenes Rechtsſyſtem, deſſen Princip die Unterordnung des Lebens
des Einzelnen unter die beſtimmte Ordnung der Geſellſchaft und ihre
Forderungen iſt. So entſteht das geſellſchaftliche Recht, als die-
jenige Summe von Beſchränkungen des Rechts der ſelbſtän-
digen Perſönlichkeit, welche nicht mehr durch die Idee des per-
ſönlichen Staats, ſondern durch das ſpecielle Princip der einzelnen
Geſellſchaftsordnungen gefordert, und als Bedingung ſeiner Verwirk-
lichung angeſehen wird.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 7. Stuttgart, 1868, S. 72. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre07_1868/90>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.