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Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894.

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Figuren sich regelmässig wiederholen, wo es sich gar um Muster handelt, da dart
man sicher sein, dass die ersten Leute, die sie zeichneten, auch ein bestimmtes
Vorbild vor Augen hatten, dessen Sinn aber die Nachkommen vernachlässigt
und unter dem Einfluss sprachlicher Differenzierung der nunmehr technischen
Wörter auch ganz vergessen haben mögen.

Der Kulturmensch beginnt heute schon seine ersten Stümpereien in der
Zeichenkunst mit Dreiecken, Vierecken, Kreisen, unsere Vorfahren haben an diesen
und ähnlichen Figuren die Wissenschaft, die als die höchste gilt, entwickelt, er
erblickt auch nirgendwo in der umgebenden Natur Linien und geometrische Figuren
-- folglich, schliesst er, sind diese fundamentalen Begriffe seinem eigenen reichen
Innern entsprungen. Dass sie aus den Vorlagen von Schamschürzen, Fleder-
mäusen, Fischen entstanden sein könnten, scheint ihm nicht nur unwürdig, sondern
auch ein lächerlicher Umweg. Denn was ist leichter als ein Dreieck zu zeichnen?
Was ist leichter, erwidere ich, als bis fünf zu zählen? Der Bakairi erklärt noch
jetzt jedes Dreieck, das ich ihm zeichne, für eine Abbildung des Uluri, er kann
die Dinge noch nicht zählen, ohne seine Finger zu Hülfe zu nehmen. Das Zahl-
wort "5" = Hand, das sich noch bei vielen Naturvölkern findet, entspricht genau
dem Uluri = Dreieck, in beiden Fällen ist die innere Anschauung des Schemas
oder die Abstraktion erst von dem Objekt gewonnen worden, in beiden hat das
konkrete Vorbild noch lange Zeit sein Recht behauptet. Weder unsere Leichtigkeit,
mit diesen Begriffen umzuspringen, noch die Thatsache, dass der Sinn unserer
Zahlwörter aller spürenden Philologie entzogen bleibt, beweist, dass unsere Vor-
fahren einen andern Gang gegangen sind als die Naturvölker.

Der Lehrer der Geometrie braucht heute gewiss nicht mehr an einem Uluri
besonderes Vergnügen zu haben, damit er ein Dreieck konzipieren könne. Das
Uluri ist so eine Art Archaeopteryx der Mathematik. Wie sollte der fliegende
Vogel anerkennen wollen, dass er von den kriechenden, bestenfalls flatternden
Reptilien abstamme? Dennoch beweist die Unfähigkeit des Vogels, diesen
Ursprung zu verstehen, nicht das Allergeringste dagegen. So beweist es auch
nichts, wenn wir ausgezeichneten Flieger in den Höhen der Mathematik uns
kaum vorzustellen vermögen, dass frühere Menschen sich noch nicht zu der
kleinen Leistung aufschwingen konnten, ein simples Dreieck aus sich selbst her-
vorzuholen.

Verwendung der Ornamente. An den Gebrauchswaffen -- es gab ja
nur Bogen und Pfeile -- waren gemalte Muster kaum anzubringen. Auch das
Wurfholz wurde nur durch Umflechtung verziert; ein Korkkegel, der einem Pfeil-
schaft als Spitze aufsass, zeigte den Schmuck des Mereschumusters, vgl. die Ab-
bildung Seite 109. Sonst darf man behaupten, dass aller Festputz, soweit er
geeignete Flächen darbot, ausnahmslos mit Mustern bemalt war. Am meisten
bemerkbar ist dieses an den Masken, für die sämtliche Stämme das Mereschu
mit grosser Vorliebe verwendeten, wie sich bei Beschreibung der Masken des
Näheren ergeben wird.


Figuren sich regelmässig wiederholen, wo es sich gar um Muster handelt, da dart
man sicher sein, dass die ersten Leute, die sie zeichneten, auch ein bestimmtes
Vorbild vor Augen hatten, dessen Sinn aber die Nachkommen vernachlässigt
und unter dem Einfluss sprachlicher Differenzierung der nunmehr technischen
Wörter auch ganz vergessen haben mögen.

Der Kulturmensch beginnt heute schon seine ersten Stümpereien in der
Zeichenkunst mit Dreiecken, Vierecken, Kreisen, unsere Vorfahren haben an diesen
und ähnlichen Figuren die Wissenschaft, die als die höchste gilt, entwickelt, er
erblickt auch nirgendwo in der umgebenden Natur Linien und geometrische Figuren
— folglich, schliesst er, sind diese fundamentalen Begriffe seinem eigenen reichen
Innern entsprungen. Dass sie aus den Vorlagen von Schamschürzen, Fleder-
mäusen, Fischen entstanden sein könnten, scheint ihm nicht nur unwürdig, sondern
auch ein lächerlicher Umweg. Denn was ist leichter als ein Dreieck zu zeichnen?
Was ist leichter, erwidere ich, als bis fünf zu zählen? Der Bakaïrí erklärt noch
jetzt jedes Dreieck, das ich ihm zeichne, für eine Abbildung des Uluri, er kann
die Dinge noch nicht zählen, ohne seine Finger zu Hülfe zu nehmen. Das Zahl-
wort »5« = Hand, das sich noch bei vielen Naturvölkern findet, entspricht genau
dem Uluri = Dreieck, in beiden Fällen ist die innere Anschauung des Schemas
oder die Abstraktion erst von dem Objekt gewonnen worden, in beiden hat das
konkrete Vorbild noch lange Zeit sein Recht behauptet. Weder unsere Leichtigkeit,
mit diesen Begriffen umzuspringen, noch die Thatsache, dass der Sinn unserer
Zahlwörter aller spürenden Philologie entzogen bleibt, beweist, dass unsere Vor-
fahren einen andern Gang gegangen sind als die Naturvölker.

Der Lehrer der Geometrie braucht heute gewiss nicht mehr an einem Uluri
besonderes Vergnügen zu haben, damit er ein Dreieck konzipieren könne. Das
Uluri ist so eine Art Archaeopteryx der Mathematik. Wie sollte der fliegende
Vogel anerkennen wollen, dass er von den kriechenden, bestenfalls flatternden
Reptilien abstamme? Dennoch beweist die Unfähigkeit des Vogels, diesen
Ursprung zu verstehen, nicht das Allergeringste dagegen. So beweist es auch
nichts, wenn wir ausgezeichneten Flieger in den Höhen der Mathematik uns
kaum vorzustellen vermögen, dass frühere Menschen sich noch nicht zu der
kleinen Leistung aufschwingen konnten, ein simples Dreieck aus sich selbst her-
vorzuholen.

Verwendung der Ornamente. An den Gebrauchswaffen — es gab ja
nur Bogen und Pfeile — waren gemalte Muster kaum anzubringen. Auch das
Wurfholz wurde nur durch Umflechtung verziert; ein Korkkegel, der einem Pfeil-
schaft als Spitze aufsass, zeigte den Schmuck des Mereschumusters, vgl. die Ab-
bildung Seite 109. Sonst darf man behaupten, dass aller Festputz, soweit er
geeignete Flächen darbot, ausnahmslos mit Mustern bemalt war. Am meisten
bemerkbar ist dieses an den Masken, für die sämtliche Stämme das Mereschu
mit grosser Vorliebe verwendeten, wie sich bei Beschreibung der Masken des
Näheren ergeben wird.


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[270/0330] Figuren sich regelmässig wiederholen, wo es sich gar um Muster handelt, da dart man sicher sein, dass die ersten Leute, die sie zeichneten, auch ein bestimmtes Vorbild vor Augen hatten, dessen Sinn aber die Nachkommen vernachlässigt und unter dem Einfluss sprachlicher Differenzierung der nunmehr technischen Wörter auch ganz vergessen haben mögen. Der Kulturmensch beginnt heute schon seine ersten Stümpereien in der Zeichenkunst mit Dreiecken, Vierecken, Kreisen, unsere Vorfahren haben an diesen und ähnlichen Figuren die Wissenschaft, die als die höchste gilt, entwickelt, er erblickt auch nirgendwo in der umgebenden Natur Linien und geometrische Figuren — folglich, schliesst er, sind diese fundamentalen Begriffe seinem eigenen reichen Innern entsprungen. Dass sie aus den Vorlagen von Schamschürzen, Fleder- mäusen, Fischen entstanden sein könnten, scheint ihm nicht nur unwürdig, sondern auch ein lächerlicher Umweg. Denn was ist leichter als ein Dreieck zu zeichnen? Was ist leichter, erwidere ich, als bis fünf zu zählen? Der Bakaïrí erklärt noch jetzt jedes Dreieck, das ich ihm zeichne, für eine Abbildung des Uluri, er kann die Dinge noch nicht zählen, ohne seine Finger zu Hülfe zu nehmen. Das Zahl- wort »5« = Hand, das sich noch bei vielen Naturvölkern findet, entspricht genau dem Uluri = Dreieck, in beiden Fällen ist die innere Anschauung des Schemas oder die Abstraktion erst von dem Objekt gewonnen worden, in beiden hat das konkrete Vorbild noch lange Zeit sein Recht behauptet. Weder unsere Leichtigkeit, mit diesen Begriffen umzuspringen, noch die Thatsache, dass der Sinn unserer Zahlwörter aller spürenden Philologie entzogen bleibt, beweist, dass unsere Vor- fahren einen andern Gang gegangen sind als die Naturvölker. Der Lehrer der Geometrie braucht heute gewiss nicht mehr an einem Uluri besonderes Vergnügen zu haben, damit er ein Dreieck konzipieren könne. Das Uluri ist so eine Art Archaeopteryx der Mathematik. Wie sollte der fliegende Vogel anerkennen wollen, dass er von den kriechenden, bestenfalls flatternden Reptilien abstamme? Dennoch beweist die Unfähigkeit des Vogels, diesen Ursprung zu verstehen, nicht das Allergeringste dagegen. So beweist es auch nichts, wenn wir ausgezeichneten Flieger in den Höhen der Mathematik uns kaum vorzustellen vermögen, dass frühere Menschen sich noch nicht zu der kleinen Leistung aufschwingen konnten, ein simples Dreieck aus sich selbst her- vorzuholen. Verwendung der Ornamente. An den Gebrauchswaffen — es gab ja nur Bogen und Pfeile — waren gemalte Muster kaum anzubringen. Auch das Wurfholz wurde nur durch Umflechtung verziert; ein Korkkegel, der einem Pfeil- schaft als Spitze aufsass, zeigte den Schmuck des Mereschumusters, vgl. die Ab- bildung Seite 109. Sonst darf man behaupten, dass aller Festputz, soweit er geeignete Flächen darbot, ausnahmslos mit Mustern bemalt war. Am meisten bemerkbar ist dieses an den Masken, für die sämtliche Stämme das Mereschu mit grosser Vorliebe verwendeten, wie sich bei Beschreibung der Masken des Näheren ergeben wird.

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Zitationshilfe: Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894, S. 270. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinen_naturvoelker_1894/330>, abgerufen am 21.11.2024.