Der Mensch muss nicht sterben. Wissen von der Fortdauer nach dem Tode. Naturerklärung durch Geschichten. Tiere = Personen. Tiere liefern wirklich die Kultur, daher gleiche Erklärung auf unbekannte Herkunft übertragen. Entstehung der erklärenden Geschichte. Gestirne, die ältesten Dinge und Tiere. Bedeutung der Milchstrasse. Verwandlung. Männer aus Pfeilen, Frauen aus Maisstampfern. Keri und Kame und die Ahnensage. Die Namen Keri und Kame. Die Zwillinge und ihre Mutter sind keine tiefsinnigen Personifikationen.
Als ich im Verlauf meiner sprachlichen Aufnahme Antonio*) den Satz vor- legte: "Jedermann muss sterben", schwieg er zu meinem Erstaunen geraume Zeit. Es entstand dieselbe lange Pause, die ich jedesmal zu überwinden hatte, wenn ich ihm eine der ihm so fremdartigen, uns so geläufigen Abstraktionen auftischte. Da lernte ich denn zum ersten Mal, der Bakairi kennt kein Müssen, er ist noch nicht dazu gelangt, aus einer Reihe immer gleichförmig wiederkehrender Erscheinungen die allgemeine Notwendigkeit abzuleiten, ganz besonders aber ver- steht er auch gar nicht, dass der Mensch sterben muss. Fern liegt ihm der Gedanke, den wir uns auf den untersten Gymnasialklassen**) einprägen, "nemo mortem effugere potest". Die Uebersetzung Antonio's, die das Wort "müssen" umging, aber doch zeigte, dass er meine Ansicht richtig verstanden hatte, lautete nach viertelstündigem Nachdenken etwas verzwickt: "ich sterbe nur (und) wir (sterben)." Der Dolmetscher schüttelte aber unbefriedigt den Kopf; er hatte den Zweifel, den auch wir etwa kaum unterdrücken möchten, wenn da behauptet würde: "alle Menschen müssen ermordet werden." Nur aussen in einem bösen Streich sucht der Indianer die Ursache des Todes. Gäbe es nur gute Menschen, so gäbe es weder Kranksein noch Sterben. Nichts weiss er von einem natür- lichen Ablauf des Lebensprozesses.
*) Bakairi-Grammatik, p. 185.
**) Ich habe als Knabe daran in meinem Innern durchaus nicht glauben wollen und viele Jahre, so lange ich das Wesen des Todes noch nicht genauer kennen gelernt hatte, eigensinnig an der Hoffnung festgehalten, dass doch ich vielleicht eine Ausnahme machen und nicht sterben würde, wie es sonst in der Weltgeschichte üblich ist.
XIII. KAPITEL. Wissenschaft und Sage der Bakaïrí.
I. Die Grundanschauung.
Der Mensch muss nicht sterben. Wissen von der Fortdauer nach dem Tode. Naturerklärung durch Geschichten. Tiere = Personen. Tiere liefern wirklich die Kultur, daher gleiche Erklärung auf unbekannte Herkunft übertragen. Entstehung der erklärenden Geschichte. Gestirne, die ältesten Dinge und Tiere. Bedeutung der Milchstrasse. Verwandlung. Männer aus Pfeilen, Frauen aus Maisstampfern. Keri und Kame und die Ahnensage. Die Namen Keri und Kame. Die Zwillinge und ihre Mutter sind keine tiefsinnigen Personifikationen.
Als ich im Verlauf meiner sprachlichen Aufnahme Antonio*) den Satz vor- legte: »Jedermann muss sterben«, schwieg er zu meinem Erstaunen geraume Zeit. Es entstand dieselbe lange Pause, die ich jedesmal zu überwinden hatte, wenn ich ihm eine der ihm so fremdartigen, uns so geläufigen Abstraktionen auftischte. Da lernte ich denn zum ersten Mal, der Bakaïrí kennt kein Müssen, er ist noch nicht dazu gelangt, aus einer Reihe immer gleichförmig wiederkehrender Erscheinungen die allgemeine Notwendigkeit abzuleiten, ganz besonders aber ver- steht er auch gar nicht, dass der Mensch sterben muss. Fern liegt ihm der Gedanke, den wir uns auf den untersten Gymnasialklassen**) einprägen, »nemo mortem effugere potest«. Die Uebersetzung Antonio’s, die das Wort »müssen« umging, aber doch zeigte, dass er meine Ansicht richtig verstanden hatte, lautete nach viertelstündigem Nachdenken etwas verzwickt: »ich sterbe nur (und) wir (sterben).« Der Dolmetscher schüttelte aber unbefriedigt den Kopf; er hatte den Zweifel, den auch wir etwa kaum unterdrücken möchten, wenn da behauptet würde: »alle Menschen müssen ermordet werden.« Nur aussen in einem bösen Streich sucht der Indianer die Ursache des Todes. Gäbe es nur gute Menschen, so gäbe es weder Kranksein noch Sterben. Nichts weiss er von einem natür- lichen Ablauf des Lebensprozesses.
*) Bakaïrí-Grammatik, p. 185.
**) Ich habe als Knabe daran in meinem Innern durchaus nicht glauben wollen und viele Jahre, so lange ich das Wesen des Todes noch nicht genauer kennen gelernt hatte, eigensinnig an der Hoffnung festgehalten, dass doch ich vielleicht eine Ausnahme machen und nicht sterben würde, wie es sonst in der Weltgeschichte üblich ist.
<TEI><text><body><pbfacs="#f0412"n="[348]"/><divn="1"><head>XIII. <hirendition="#g">KAPITEL</hi>.<lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><hirendition="#b">Wissenschaft und Sage der Bakaïrí.</hi></head><lb/><divn="2"><head><hirendition="#b">I. Die Grundanschauung.</hi></head><lb/><argument><p><hirendition="#c">Der Mensch muss nicht sterben. Wissen von der Fortdauer nach dem Tode. Naturerklärung durch<lb/>
Geschichten. Tiere = Personen. Tiere liefern wirklich die Kultur, daher gleiche Erklärung auf<lb/>
unbekannte Herkunft übertragen. Entstehung der erklärenden Geschichte. <hirendition="#g">Gestirne</hi>, die ältesten<lb/>
Dinge und Tiere. Bedeutung der Milchstrasse. <hirendition="#g">Verwandlung</hi>. Männer aus Pfeilen, Frauen aus<lb/>
Maisstampfern. <hirendition="#g">Keri und Kame und die Ahnensage</hi>. Die <hirendition="#g">Namen</hi> Keri und Kame. Die<lb/>
Zwillinge und ihre Mutter sind keine tiefsinnigen Personifikationen.</hi></p></argument><lb/><p>Als ich im Verlauf meiner sprachlichen Aufnahme Antonio<noteplace="foot"n="*)">Bakaïrí-Grammatik, p. 185.</note> den Satz vor-<lb/>
legte: »<hirendition="#g">Jedermann muss sterben</hi>«, schwieg er zu meinem Erstaunen geraume<lb/>
Zeit. Es entstand dieselbe lange Pause, die ich jedesmal zu überwinden hatte,<lb/>
wenn ich ihm eine der ihm so fremdartigen, uns so geläufigen Abstraktionen<lb/>
auftischte. Da lernte ich denn zum ersten Mal, der Bakaïrí kennt kein Müssen,<lb/>
er ist noch nicht dazu gelangt, aus einer Reihe immer gleichförmig wiederkehrender<lb/>
Erscheinungen die allgemeine Notwendigkeit abzuleiten, ganz besonders aber ver-<lb/>
steht er auch gar nicht, dass der Mensch sterben <hirendition="#g">muss</hi>. Fern liegt ihm der<lb/>
Gedanke, den wir uns auf den untersten Gymnasialklassen<noteplace="foot"n="**)">Ich habe als Knabe daran in meinem Innern durchaus <hirendition="#g">nicht glauben</hi> wollen und viele<lb/>
Jahre, so lange ich das Wesen des Todes noch nicht genauer kennen gelernt hatte, eigensinnig an der<lb/>
Hoffnung festgehalten, dass doch <hirendition="#g">ich</hi> vielleicht eine <hirendition="#g">Ausnahme</hi> machen und nicht sterben würde,<lb/>
wie es sonst in der Weltgeschichte üblich ist.</note> einprägen, »nemo<lb/>
mortem effugere potest«. Die Uebersetzung Antonio’s, die das Wort »müssen«<lb/>
umging, aber doch zeigte, dass er meine Ansicht richtig verstanden hatte, lautete<lb/>
nach viertelstündigem Nachdenken etwas verzwickt: »<hirendition="#g">ich</hi> sterbe nur (und) wir<lb/>
(sterben).« Der Dolmetscher schüttelte aber unbefriedigt den Kopf; er hatte den<lb/>
Zweifel, den auch wir etwa kaum unterdrücken möchten, wenn da behauptet<lb/>
würde: »alle Menschen müssen ermordet werden.« Nur aussen in einem bösen<lb/>
Streich sucht der Indianer die Ursache des Todes. Gäbe es nur gute Menschen,<lb/>
so gäbe es weder Kranksein noch Sterben. Nichts weiss er von einem natür-<lb/>
lichen Ablauf des Lebensprozesses.</p><lb/></div></div></body></text></TEI>
[[348]/0412]
XIII. KAPITEL.
Wissenschaft und Sage der Bakaïrí.
I. Die Grundanschauung.
Der Mensch muss nicht sterben. Wissen von der Fortdauer nach dem Tode. Naturerklärung durch
Geschichten. Tiere = Personen. Tiere liefern wirklich die Kultur, daher gleiche Erklärung auf
unbekannte Herkunft übertragen. Entstehung der erklärenden Geschichte. Gestirne, die ältesten
Dinge und Tiere. Bedeutung der Milchstrasse. Verwandlung. Männer aus Pfeilen, Frauen aus
Maisstampfern. Keri und Kame und die Ahnensage. Die Namen Keri und Kame. Die
Zwillinge und ihre Mutter sind keine tiefsinnigen Personifikationen.
Als ich im Verlauf meiner sprachlichen Aufnahme Antonio *) den Satz vor-
legte: »Jedermann muss sterben«, schwieg er zu meinem Erstaunen geraume
Zeit. Es entstand dieselbe lange Pause, die ich jedesmal zu überwinden hatte,
wenn ich ihm eine der ihm so fremdartigen, uns so geläufigen Abstraktionen
auftischte. Da lernte ich denn zum ersten Mal, der Bakaïrí kennt kein Müssen,
er ist noch nicht dazu gelangt, aus einer Reihe immer gleichförmig wiederkehrender
Erscheinungen die allgemeine Notwendigkeit abzuleiten, ganz besonders aber ver-
steht er auch gar nicht, dass der Mensch sterben muss. Fern liegt ihm der
Gedanke, den wir uns auf den untersten Gymnasialklassen **) einprägen, »nemo
mortem effugere potest«. Die Uebersetzung Antonio’s, die das Wort »müssen«
umging, aber doch zeigte, dass er meine Ansicht richtig verstanden hatte, lautete
nach viertelstündigem Nachdenken etwas verzwickt: »ich sterbe nur (und) wir
(sterben).« Der Dolmetscher schüttelte aber unbefriedigt den Kopf; er hatte den
Zweifel, den auch wir etwa kaum unterdrücken möchten, wenn da behauptet
würde: »alle Menschen müssen ermordet werden.« Nur aussen in einem bösen
Streich sucht der Indianer die Ursache des Todes. Gäbe es nur gute Menschen,
so gäbe es weder Kranksein noch Sterben. Nichts weiss er von einem natür-
lichen Ablauf des Lebensprozesses.
*) Bakaïrí-Grammatik, p. 185.
**) Ich habe als Knabe daran in meinem Innern durchaus nicht glauben wollen und viele
Jahre, so lange ich das Wesen des Todes noch nicht genauer kennen gelernt hatte, eigensinnig an der
Hoffnung festgehalten, dass doch ich vielleicht eine Ausnahme machen und nicht sterben würde,
wie es sonst in der Weltgeschichte üblich ist.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894, S. [348]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinen_naturvoelker_1894/412>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.