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Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894.

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die Maiskorner. Wer zählt nicht laut oder leise mit, wenn er die Schläge einer
Uhr, von denen er natürlich nicht vorauswissen soll, wie viele es sind, zählen
will? Und nun denke man sich einen Augenblick, man habe keine Reihe von
Zahlwörtern zur Verfügung, in der jedes einzelne uns der Mühe überhebt, die
vorhergehenden zu behalten, sondern habe nur die Wörter für 1 und 2; wird
man nicht sofort die Finger zu Hilfe nehmen, um sie bei 6 oder 8 Schlägen
um die Summe genau so zu befragen, wie der Bakairi in seinem Fall? Dass Schlag
auf Schlag verklingt, ändert nichts Wesentliches an dem Vergleich: auch den
Blick muss ich von Objekt zu Objekt hinüberbewegen. Stellen wir uns umgekehrt
Jemanden vor, der eine grosse Uebung darin besässe, Gehörseindrücke zu regi-
strieren; wird er begreifen können, dass Unsereins sagen kann, er habe die Uhr
schlagen hören, wisse aber nicht wie oft? Wie mitleidig würde er über unser
lautes Mitzählen lächeln! Und auch er würde die Finger zu Hilfe nehmen müssen,
wenn er in seinen Zahlwörtern keine höheren Einheiten als 2 und 3 hätte.

Wie wir nicht geübt sind mit dem Gehör, ist der Bakairi nicht gewöhnt,
mit den Blicken zu zählen. Er ist noch fast ganz auf das Ergebnis der Tast-
wahrnehmung beschränkt. Die Grundlage, auf der sich, durch Interesse und Be-
dürfniss angeregt, die Weiterentwicklung und die Bildung höherer Einheiten hätte
vollziehen müssen, war schon seit zahlreichen Generationen vorhanden, allein wie
gering waren Interesse und Bedürfnis im primitiven Familienleben! Schon zum Ver-
teilen, das doch -- denken wir unwillkürlich -- zuerst herausforderte, "Rechenschaft"
abzulegen, bedurfte man kaum je des Zählens: man gab ja und bekam ja und
das Stück in der Hand bewies mehr als die Finger an der Hand.

Wenden wir uns jetzt noch einmal zu den Zahlwörtern der Bakairi und sehen
nach, wie deren Etymologie, soweit sie einige Sicherheit bietet, mit der aus den
Versuchen erschlossenen Entwicklung übereinstimmt. Die Vergleichung ist deshalb
nicht ohne Wert, weil beiderlei Studien ganz unabhängig voneinander gemacht
worden sind, und die Erklärung der Zahlwörter nur auf phonetische Begründung
und Sprachvergleichung gestützt ist.

Mit "ahewao" "3" weiss ich nichts anzufangen. Es kommt bei einer Reihe
von Stämmen des Nordens vor, teilweise in stark veränderten Formen, die aber
doch wohl zu vermitteln sind. Mit der grossen Unsicherheit, die die Bakairi noch
im 3 - zählen bekunden, mag der seltsame Luxus von zwei Zahlenausdrücken zu-
sammenhängen; die Bestimmung der Paare ist noch Hauptsache, und nur, was
über das Bestimmen des ersten Paars, den gewöhnlichsten Fall, hinausgeht, hat ein
besonderes Wort. Bei dem schwierigen Zählen von Gegenständen, das über "3"
hinausging, habe ich wohl nur "ahage tokale" gehört, sodass die beiden Ausdrücke
etwa wie "zwölf" und "Dutzend" gebraucht werden und dem "ahewao" vielleicht
noch etwas Unbestimmtes von seiner Urbedeutung innewohnt. Daher es denn
auch zu keiner Zusammensetzung höherer Zahlen verwendet wird. Im Kama-
yura
heisst "3" moapüt, ein genau zu bestimmendes Wort. Es setzt sich zu-
sammen aus dem Kausativum mo-, mbo- und apüt, apy Gipfel, Spitze. Der höchste

die Maiskorner. Wer zählt nicht laut oder leise mit, wenn er die Schläge einer
Uhr, von denen er natürlich nicht vorauswissen soll, wie viele es sind, zählen
will? Und nun denke man sich einen Augenblick, man habe keine Reihe von
Zahlwörtern zur Verfügung, in der jedes einzelne uns der Mühe überhebt, die
vorhergehenden zu behalten, sondern habe nur die Wörter für 1 und 2; wird
man nicht sofort die Finger zu Hilfe nehmen, um sie bei 6 oder 8 Schlägen
um die Summe genau so zu befragen, wie der Bakaïrí in seinem Fall? Dass Schlag
auf Schlag verklingt, ändert nichts Wesentliches an dem Vergleich: auch den
Blick muss ich von Objekt zu Objekt hinüberbewegen. Stellen wir uns umgekehrt
Jemanden vor, der eine grosse Uebung darin besässe, Gehörseindrücke zu regi-
strieren; wird er begreifen können, dass Unsereins sagen kann, er habe die Uhr
schlagen hören, wisse aber nicht wie oft? Wie mitleidig würde er über unser
lautes Mitzählen lächeln! Und auch er würde die Finger zu Hilfe nehmen müssen,
wenn er in seinen Zahlwörtern keine höheren Einheiten als 2 und 3 hätte.

Wie wir nicht geübt sind mit dem Gehör, ist der Bakaïrí nicht gewöhnt,
mit den Blicken zu zählen. Er ist noch fast ganz auf das Ergebnis der Tast-
wahrnehmung beschränkt. Die Grundlage, auf der sich, durch Interesse und Be-
dürfniss angeregt, die Weiterentwicklung und die Bildung höherer Einheiten hätte
vollziehen müssen, war schon seit zahlreichen Generationen vorhanden, allein wie
gering waren Interesse und Bedürfnis im primitiven Familienleben! Schon zum Ver-
teilen, das doch — denken wir unwillkürlich — zuerst herausforderte, »Rechenschaft«
abzulegen, bedurfte man kaum je des Zählens: man gab ja und bekam ja und
das Stück in der Hand bewies mehr als die Finger an der Hand.

Wenden wir uns jetzt noch einmal zu den Zahlwörtern der Bakaïrí und sehen
nach, wie deren Etymologie, soweit sie einige Sicherheit bietet, mit der aus den
Versuchen erschlossenen Entwicklung übereinstimmt. Die Vergleichung ist deshalb
nicht ohne Wert, weil beiderlei Studien ganz unabhängig voneinander gemacht
worden sind, und die Erklärung der Zahlwörter nur auf phonetische Begründung
und Sprachvergleichung gestützt ist.

Mit „ahewáo“ »3« weiss ich nichts anzufangen. Es kommt bei einer Reihe
von Stämmen des Nordens vor, teilweise in stark veränderten Formen, die aber
doch wohl zu vermitteln sind. Mit der grossen Unsicherheit, die die Bakaïrí noch
im 3 - zählen bekunden, mag der seltsame Luxus von zwei Zahlenausdrücken zu-
sammenhängen; die Bestimmung der Paare ist noch Hauptsache, und nur, was
über das Bestimmen des ersten Paars, den gewöhnlichsten Fall, hinausgeht, hat ein
besonderes Wort. Bei dem schwierigen Zählen von Gegenständen, das über »3«
hinausging, habe ich wohl nuraháge tokále“ gehört, sodass die beiden Ausdrücke
etwa wie »zwölf« und »Dutzend« gebraucht werden und dem „ahewáo“ vielleicht
noch etwas Unbestimmtes von seiner Urbedeutung innewohnt. Daher es denn
auch zu keiner Zusammensetzung höherer Zahlen verwendet wird. Im Kama-
yurá
heisst »3« moapüt, ein genau zu bestimmendes Wort. Es setzt sich zu-
sammen aus dem Kausativum mo-, mbo- und apüt, apy Gipfel, Spitze. Der höchste

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[416/0480] die Maiskorner. Wer zählt nicht laut oder leise mit, wenn er die Schläge einer Uhr, von denen er natürlich nicht vorauswissen soll, wie viele es sind, zählen will? Und nun denke man sich einen Augenblick, man habe keine Reihe von Zahlwörtern zur Verfügung, in der jedes einzelne uns der Mühe überhebt, die vorhergehenden zu behalten, sondern habe nur die Wörter für 1 und 2; wird man nicht sofort die Finger zu Hilfe nehmen, um sie bei 6 oder 8 Schlägen um die Summe genau so zu befragen, wie der Bakaïrí in seinem Fall? Dass Schlag auf Schlag verklingt, ändert nichts Wesentliches an dem Vergleich: auch den Blick muss ich von Objekt zu Objekt hinüberbewegen. Stellen wir uns umgekehrt Jemanden vor, der eine grosse Uebung darin besässe, Gehörseindrücke zu regi- strieren; wird er begreifen können, dass Unsereins sagen kann, er habe die Uhr schlagen hören, wisse aber nicht wie oft? Wie mitleidig würde er über unser lautes Mitzählen lächeln! Und auch er würde die Finger zu Hilfe nehmen müssen, wenn er in seinen Zahlwörtern keine höheren Einheiten als 2 und 3 hätte. Wie wir nicht geübt sind mit dem Gehör, ist der Bakaïrí nicht gewöhnt, mit den Blicken zu zählen. Er ist noch fast ganz auf das Ergebnis der Tast- wahrnehmung beschränkt. Die Grundlage, auf der sich, durch Interesse und Be- dürfniss angeregt, die Weiterentwicklung und die Bildung höherer Einheiten hätte vollziehen müssen, war schon seit zahlreichen Generationen vorhanden, allein wie gering waren Interesse und Bedürfnis im primitiven Familienleben! Schon zum Ver- teilen, das doch — denken wir unwillkürlich — zuerst herausforderte, »Rechenschaft« abzulegen, bedurfte man kaum je des Zählens: man gab ja und bekam ja und das Stück in der Hand bewies mehr als die Finger an der Hand. Wenden wir uns jetzt noch einmal zu den Zahlwörtern der Bakaïrí und sehen nach, wie deren Etymologie, soweit sie einige Sicherheit bietet, mit der aus den Versuchen erschlossenen Entwicklung übereinstimmt. Die Vergleichung ist deshalb nicht ohne Wert, weil beiderlei Studien ganz unabhängig voneinander gemacht worden sind, und die Erklärung der Zahlwörter nur auf phonetische Begründung und Sprachvergleichung gestützt ist. Mit „ahewáo“ »3« weiss ich nichts anzufangen. Es kommt bei einer Reihe von Stämmen des Nordens vor, teilweise in stark veränderten Formen, die aber doch wohl zu vermitteln sind. Mit der grossen Unsicherheit, die die Bakaïrí noch im 3 - zählen bekunden, mag der seltsame Luxus von zwei Zahlenausdrücken zu- sammenhängen; die Bestimmung der Paare ist noch Hauptsache, und nur, was über das Bestimmen des ersten Paars, den gewöhnlichsten Fall, hinausgeht, hat ein besonderes Wort. Bei dem schwierigen Zählen von Gegenständen, das über »3« hinausging, habe ich wohl nur „aháge tokále“ gehört, sodass die beiden Ausdrücke etwa wie »zwölf« und »Dutzend« gebraucht werden und dem „ahewáo“ vielleicht noch etwas Unbestimmtes von seiner Urbedeutung innewohnt. Daher es denn auch zu keiner Zusammensetzung höherer Zahlen verwendet wird. Im Kama- yurá heisst »3« moapüt, ein genau zu bestimmendes Wort. Es setzt sich zu- sammen aus dem Kausativum mo-, mbo- und apüt, apy Gipfel, Spitze. Der höchste

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Zitationshilfe: Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894, S. 416. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinen_naturvoelker_1894/480>, abgerufen am 22.11.2024.