und der Fleischtransport ist zu Ende. Der gute Eliseo entschuldigt sich allen Ernstes bei uns, wenn er unter diesen Umständen das Ende der Passion früher ansagen müsse; wir beruhigen ihn durch den Hinweis auf den Zeitunterschied mit Jerusalem.
An einem jungen Baum ist 11/2m hoch über dem Boden der Judas auf- gehängt: weisser Drillichanzug, schöne enge Stiefel, Papiergesicht, die Wangen mit Urukurot bemalt, Schnurrbart und Haar aus indianischem Frauenhaar, aus- gestopft mit Sägespähnen. "Kabababa?" "Was ist das?" fragen die verwunderten Bororo. Judas hält einen Holzsäbel in dem rechten Aermel, aus einer Tasche schaut der Hals einer Bierflasche vor, ein in den Rock geschobenes Stück Papier ist das Testament des Verräters. Um 8 Uhr aber treten die Soldaten blank und sauber in weissem Leinenanzug an; europäische Augen würden durch die nackten Füsse etwas befremdet. Eliseo trägt eine rote Schärpe. Der Koch steckt dem Judas eine Pulverpatrone in den Leib -- ein Knall, Rauch quillt hervor und Judas beginnt langsam abzubrennen. Der Trompeter bläst eine Fanfare, währenddes knattern drei Salven los und in den Pausen gesellt sich der musikalischen Be- gleitung durchdringendes Klagegeheul aus einer Hütte; die Indianer, die in dichten Haufen umherstehen, halten sich die Ohren zu und gedenken der Zeit, wo in ihrem Wald die Schüsse knallten. Moguyokuri und sein Sohn, der ihn an Körper- länge noch übertrifft, treten vor, um auf die zerfallenden Reste von Judas Ischarioth noch einige Pfeile abzusenden. Vorsichtig, damit die Pfeile nicht verbrennen, löschen sie vorher. Die Soldaten treten ab; überall wird nun Pulver verknallt, auch unsere Kameraden können dem Gelüst nicht widerstehen, aus dem Küchen- hof, wo das Schwein geschlachtet wird, erschallt mörderliches Geschrei, Freude herrscht überall: Halleluja!
Kayapo! Die Totenfeier für Coqueiro's Witwe, die ich noch in ihren Einzel- heiten schildern werde, fiel auf den Ostermontag (1. April); wir Gäste kamen aus dem Staunen nicht heraus über die seltsamen Kontraste, die jeder Tag in dem unruhigen Leben der Kolonie unsern Augen zur Schau stellte. Kaum war das Wehklagen verhallt, der Totenkorb weggeschafft, gab es neue Aufregung. Die Bororo wollten zwei Kayapo, die sie Kayamo nennen, im Wald gesehen haben. Ihr Erbfeind in dichter Nähe der Kolonie! Noch am Abend die Kolonie verlassen -- es schien schier unglaublich -- war die allgemeine Losung der Indianer. Die Soldaten mussten alarmiert werden, eine Patrouille wurde ausgeschickt und sollte an der verdächtigen Ecke im Walde ein Dutzend Schüsse abgeben. So beruhigte man sich vorläufig, doch schlief der grosse Häuptling Moguyokuri, der Schrecken des Matogrosso, die Nacht vorsichtigerweise nicht bei seinen beiden Frauen und seinen Kindern, sondern bei Eliseo.
Auch in der Nacht vom 2. auf den 3. April war Alles wach. Unsere indianischen Freunde holten uns zum Ranchao und luden uns ein, an einer Sitzung teilzunehmen, die den Zweck hatte, sich mit Musik in der Hoffnung auf einen Sieg über die bösen Kayapo zu stärken. Zu Anfang standen wir Alle und tanzten
und der Fleischtransport ist zu Ende. Der gute Eliseo entschuldigt sich allen Ernstes bei uns, wenn er unter diesen Umständen das Ende der Passion früher ansagen müsse; wir beruhigen ihn durch den Hinweis auf den Zeitunterschied mit Jerusalem.
An einem jungen Baum ist 1½m hoch über dem Boden der Judas auf- gehängt: weisser Drillichanzug, schöne enge Stiefel, Papiergesicht, die Wangen mit Urukúrot bemalt, Schnurrbart und Haar aus indianischem Frauenhaar, aus- gestopft mit Sägespähnen. „Kabababá?“ »Was ist das?« fragen die verwunderten Bororó. Judas hält einen Holzsäbel in dem rechten Aermel, aus einer Tasche schaut der Hals einer Bierflasche vor, ein in den Rock geschobenes Stück Papier ist das Testament des Verräters. Um 8 Uhr aber treten die Soldaten blank und sauber in weissem Leinenanzug an; europäische Augen würden durch die nackten Füsse etwas befremdet. Eliseo trägt eine rote Schärpe. Der Koch steckt dem Judas eine Pulverpatrone in den Leib — ein Knall, Rauch quillt hervor und Judas beginnt langsam abzubrennen. Der Trompeter bläst eine Fanfare, währenddes knattern drei Salven los und in den Pausen gesellt sich der musikalischen Be- gleitung durchdringendes Klagegeheul aus einer Hütte; die Indianer, die in dichten Haufen umherstehen, halten sich die Ohren zu und gedenken der Zeit, wo in ihrem Wald die Schüsse knallten. Moguyokuri und sein Sohn, der ihn an Körper- länge noch übertrifft, treten vor, um auf die zerfallenden Reste von Judas Ischarioth noch einige Pfeile abzusenden. Vorsichtig, damit die Pfeile nicht verbrennen, löschen sie vorher. Die Soldaten treten ab; überall wird nun Pulver verknallt, auch unsere Kameraden können dem Gelüst nicht widerstehen, aus dem Küchen- hof, wo das Schwein geschlachtet wird, erschallt mörderliches Geschrei, Freude herrscht überall: Halleluja!
Kayapó! Die Totenfeier für Coqueiro’s Witwe, die ich noch in ihren Einzel- heiten schildern werde, fiel auf den Ostermontag (1. April); wir Gäste kamen aus dem Staunen nicht heraus über die seltsamen Kontraste, die jeder Tag in dem unruhigen Leben der Kolonie unsern Augen zur Schau stellte. Kaum war das Wehklagen verhallt, der Totenkorb weggeschafft, gab es neue Aufregung. Die Bororó wollten zwei Kayapó, die sie Kayámo nennen, im Wald gesehen haben. Ihr Erbfeind in dichter Nähe der Kolonie! Noch am Abend die Kolonie verlassen — es schien schier unglaublich — war die allgemeine Losung der Indianer. Die Soldaten mussten alarmiert werden, eine Patrouille wurde ausgeschickt und sollte an der verdächtigen Ecke im Walde ein Dutzend Schüsse abgeben. So beruhigte man sich vorläufig, doch schlief der grosse Häuptling Moguyokuri, der Schrecken des Matogrosso, die Nacht vorsichtigerweise nicht bei seinen beiden Frauen und seinen Kindern, sondern bei Eliseo.
Auch in der Nacht vom 2. auf den 3. April war Alles wach. Unsere indianischen Freunde holten uns zum Ranchão und luden uns ein, an einer Sitzung teilzunehmen, die den Zweck hatte, sich mit Musik in der Hoffnung auf einen Sieg über die bösen Kayapó zu stärken. Zu Anfang standen wir Alle und tanzten
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Ernstes bei uns, wenn er unter diesen Umständen das Ende der Passion früher
ansagen müsse; wir beruhigen ihn durch den Hinweis auf den Zeitunterschied mit
Jerusalem.
An einem jungen Baum ist 1½m hoch über dem Boden der Judas auf-
gehängt: weisser Drillichanzug, schöne enge Stiefel, Papiergesicht, die Wangen
mit Urukúrot bemalt, Schnurrbart und Haar aus indianischem Frauenhaar, aus-
gestopft mit Sägespähnen. „Kabababá?“ »Was ist das?« fragen die verwunderten
Bororó. Judas hält einen Holzsäbel in dem rechten Aermel, aus einer Tasche
schaut der Hals einer Bierflasche vor, ein in den Rock geschobenes Stück Papier
ist das Testament des Verräters. Um 8 Uhr aber treten die Soldaten blank und
sauber in weissem Leinenanzug an; europäische Augen würden durch die nackten
Füsse etwas befremdet. Eliseo trägt eine rote Schärpe. Der Koch steckt dem
Judas eine Pulverpatrone in den Leib — ein Knall, Rauch quillt hervor und
Judas beginnt langsam abzubrennen. Der Trompeter bläst eine Fanfare, währenddes
knattern drei Salven los und in den Pausen gesellt sich der musikalischen Be-
gleitung durchdringendes Klagegeheul aus einer Hütte; die Indianer, die in dichten
Haufen umherstehen, halten sich die Ohren zu und gedenken der Zeit, wo in
ihrem Wald die Schüsse knallten. Moguyokuri und sein Sohn, der ihn an Körper-
länge noch übertrifft, treten vor, um auf die zerfallenden Reste von Judas Ischarioth
noch einige Pfeile abzusenden. Vorsichtig, damit die Pfeile nicht verbrennen,
löschen sie vorher. Die Soldaten treten ab; überall wird nun Pulver verknallt,
auch unsere Kameraden können dem Gelüst nicht widerstehen, aus dem Küchen-
hof, wo das Schwein geschlachtet wird, erschallt mörderliches Geschrei, Freude
herrscht überall: Halleluja!
Kayapó! Die Totenfeier für Coqueiro’s Witwe, die ich noch in ihren Einzel-
heiten schildern werde, fiel auf den Ostermontag (1. April); wir Gäste kamen aus
dem Staunen nicht heraus über die seltsamen Kontraste, die jeder Tag in dem
unruhigen Leben der Kolonie unsern Augen zur Schau stellte. Kaum war das
Wehklagen verhallt, der Totenkorb weggeschafft, gab es neue Aufregung. Die
Bororó wollten zwei Kayapó, die sie Kayámo nennen, im Wald gesehen haben.
Ihr Erbfeind in dichter Nähe der Kolonie! Noch am Abend die Kolonie verlassen
— es schien schier unglaublich — war die allgemeine Losung der Indianer. Die
Soldaten mussten alarmiert werden, eine Patrouille wurde ausgeschickt und sollte
an der verdächtigen Ecke im Walde ein Dutzend Schüsse abgeben. So beruhigte
man sich vorläufig, doch schlief der grosse Häuptling Moguyokuri, der Schrecken
des Matogrosso, die Nacht vorsichtigerweise nicht bei seinen beiden Frauen und
seinen Kindern, sondern bei Eliseo.
Auch in der Nacht vom 2. auf den 3. April war Alles wach. Unsere
indianischen Freunde holten uns zum Ranchão und luden uns ein, an einer Sitzung
teilzunehmen, die den Zweck hatte, sich mit Musik in der Hoffnung auf einen
Sieg über die bösen Kayapó zu stärken. Zu Anfang standen wir Alle und tanzten
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Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894, S. 459. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinen_naturvoelker_1894/525>, abgerufen am 22.11.2024.
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