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Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894.

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der eigne Schatten that völlig denselben Dienst wie die Sonne selbst. Man kommt
aber zu einer noch höheren Stufe, es gelingt leicht, eine konstante Himmels-
richtung während des Marsches einzuhalten, auch ohne dass man sich die be-
stimmte Frage nach der Zeit vorlegt, indem man nur vom ersten Augenblick
an die Schattenlinien beobachtet und dann im Stillen an ihrer fortwährenden, vom
Gang der Sonne abhängigen Verschiebung -- anfangs bewusst, bei grösserer
Uebung unbewusst -- weiterrechnet: will man z. B. östliche Richtung innehalten,
so geht man bei Sonnenaufgang der Sonne entgegen und sorgt dafür, dass sich
der links entstehende Winkel von Wegrichtung und Schattenlinie allmählig in dem
Grade vergrössert, als sich die Sonne nach Norden bewegt. Diesem Winkel
zwischen Aufgang und Mittag, zwischen Mittag und Untergang das für den grob
praktischen Zweck ausreichende Mass zu geben, macht bei stetigem Marsch
selbst einem Kulturmenschen, der sich ohne seine Instrumente sehr ungeschickt
anstellt, keine grossen Schwierigkeiten und weckt in ihm wenigstens die Ahnung
eines Verständnisses dafür, wie der von Jugend auf die Natur mit offenen Augen
beobachtende Eingeborene die Uebung soweit gesteigert hat, dass wir ihm einen
besonderen "Instinkt" zuschreiben möchten.

Ein solcher "Instinkt", der auf sehr sicherm Wissen beruht, bildet sich auch
für die topographische Kenntnis des Terrains heraus: unsere beiden Autoritäten
Vogel, der nie im Sertao gewesen war, und Antonio, dem Geologie und
Mathematik in gleicher Weise fremd geblieben waren, hatten über den Verlauf
der Chapadoes und der Cabeceiras, von dem unsere Marschrichtung abhängen
musste, zuweilen recht verschiedene Ansichten und es kam dazu, dass sie eine
Zeit lang einander unfreundlich und damit auch falsch beurteilten.

Vielleicht habe ich, der Beschwerden des Weges, des Durstes, der Monotonie
des Landschaftsbildes gedenkend, eine ungünstigere Meinung von dem Sertao der
Trockenzeit erweckt als billig ist. So darf ich nicht unterlassen auch einige
Lichtpunkte zu zeigen. Da ist nun vor allem hervorzuheben, dass die kühlen
Nächte und der Schlaf im Freien ungemein erfrischten, und dass man sich an
jedem jungen Morgen wieder im Vollbesitz der leiblichen und geistigen Elastizität
befand; da ist nicht zu vergessen, dass man auch auf angestrengtem Marsch nicht
schwitzte, weil die trockene Luft den Schweiss schon im Entstehen aufsog, und
dass die Tage, an denen man mehrere Stunden hintereinander gar kein Wasser
oder auf dem Grund eines hohen verstaubten Bambusdickichts nur eine salzig-
bittere Lache fand, zu den Ausnahmen gehörten. Wie köstlich waren auch --
wenigstens so lange die Lasttiere noch nicht angelangt waren und die schwierige
Passage noch keine Sorge machte -- die etwa 10 Schritt breiten, tief einge-
schnittenen, von überhängendem Gezweig beschatteten Bachbetten, wo man unter
der grünen Wölbung auf einer rötlichen Sandsteinfliese an dem kristallklaren
Wässerchen sass, mit vollem Becher schöpfte, das Pfeifchen genoss und mit dem
nackten Fuss plätschernd die hurtigen, in ihren gestreiften Schwimmanzügen aller-
liebst aussehenden Lambare-Fischchen aufscheuchte oder einen der handgrossen

der eigne Schatten that völlig denselben Dienst wie die Sonne selbst. Man kommt
aber zu einer noch höheren Stufe, es gelingt leicht, eine konstante Himmels-
richtung während des Marsches einzuhalten, auch ohne dass man sich die be-
stimmte Frage nach der Zeit vorlegt, indem man nur vom ersten Augenblick
an die Schattenlinien beobachtet und dann im Stillen an ihrer fortwährenden, vom
Gang der Sonne abhängigen Verschiebung — anfangs bewusst, bei grösserer
Uebung unbewusst — weiterrechnet: will man z. B. östliche Richtung innehalten,
so geht man bei Sonnenaufgang der Sonne entgegen und sorgt dafür, dass sich
der links entstehende Winkel von Wegrichtung und Schattenlinie allmählig in dem
Grade vergrössert, als sich die Sonne nach Norden bewegt. Diesem Winkel
zwischen Aufgang und Mittag, zwischen Mittag und Untergang das für den grob
praktischen Zweck ausreichende Mass zu geben, macht bei stetigem Marsch
selbst einem Kulturmenschen, der sich ohne seine Instrumente sehr ungeschickt
anstellt, keine grossen Schwierigkeiten und weckt in ihm wenigstens die Ahnung
eines Verständnisses dafür, wie der von Jugend auf die Natur mit offenen Augen
beobachtende Eingeborene die Uebung soweit gesteigert hat, dass wir ihm einen
besonderen »Instinkt« zuschreiben möchten.

Ein solcher »Instinkt«, der auf sehr sicherm Wissen beruht, bildet sich auch
für die topographische Kenntnis des Terrains heraus: unsere beiden Autoritäten
Vogel, der nie im Sertão gewesen war, und Antonio, dem Geologie und
Mathematik in gleicher Weise fremd geblieben waren, hatten über den Verlauf
der Chapadões und der Cabeceiras, von dem unsere Marschrichtung abhängen
musste, zuweilen recht verschiedene Ansichten und es kam dazu, dass sie eine
Zeit lang einander unfreundlich und damit auch falsch beurteilten.

Vielleicht habe ich, der Beschwerden des Weges, des Durstes, der Monotonie
des Landschaftsbildes gedenkend, eine ungünstigere Meinung von dem Sertão der
Trockenzeit erweckt als billig ist. So darf ich nicht unterlassen auch einige
Lichtpunkte zu zeigen. Da ist nun vor allem hervorzuheben, dass die kühlen
Nächte und der Schlaf im Freien ungemein erfrischten, und dass man sich an
jedem jungen Morgen wieder im Vollbesitz der leiblichen und geistigen Elastizität
befand; da ist nicht zu vergessen, dass man auch auf angestrengtem Marsch nicht
schwitzte, weil die trockene Luft den Schweiss schon im Entstehen aufsog, und
dass die Tage, an denen man mehrere Stunden hintereinander gar kein Wasser
oder auf dem Grund eines hohen verstaubten Bambusdickichts nur eine salzig-
bittere Lache fand, zu den Ausnahmen gehörten. Wie köstlich waren auch —
wenigstens so lange die Lasttiere noch nicht angelangt waren und die schwierige
Passage noch keine Sorge machte — die etwa 10 Schritt breiten, tief einge-
schnittenen, von überhängendem Gezweig beschatteten Bachbetten, wo man unter
der grünen Wölbung auf einer rötlichen Sandsteinfliese an dem kristallklaren
Wässerchen sass, mit vollem Becher schöpfte, das Pfeifchen genoss und mit dem
nackten Fuss plätschernd die hurtigen, in ihren gestreiften Schwimmanzügen aller-
liebst aussehenden Lambaré-Fischchen aufscheuchte oder einen der handgrossen

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[31/0055] der eigne Schatten that völlig denselben Dienst wie die Sonne selbst. Man kommt aber zu einer noch höheren Stufe, es gelingt leicht, eine konstante Himmels- richtung während des Marsches einzuhalten, auch ohne dass man sich die be- stimmte Frage nach der Zeit vorlegt, indem man nur vom ersten Augenblick an die Schattenlinien beobachtet und dann im Stillen an ihrer fortwährenden, vom Gang der Sonne abhängigen Verschiebung — anfangs bewusst, bei grösserer Uebung unbewusst — weiterrechnet: will man z. B. östliche Richtung innehalten, so geht man bei Sonnenaufgang der Sonne entgegen und sorgt dafür, dass sich der links entstehende Winkel von Wegrichtung und Schattenlinie allmählig in dem Grade vergrössert, als sich die Sonne nach Norden bewegt. Diesem Winkel zwischen Aufgang und Mittag, zwischen Mittag und Untergang das für den grob praktischen Zweck ausreichende Mass zu geben, macht bei stetigem Marsch selbst einem Kulturmenschen, der sich ohne seine Instrumente sehr ungeschickt anstellt, keine grossen Schwierigkeiten und weckt in ihm wenigstens die Ahnung eines Verständnisses dafür, wie der von Jugend auf die Natur mit offenen Augen beobachtende Eingeborene die Uebung soweit gesteigert hat, dass wir ihm einen besonderen »Instinkt« zuschreiben möchten. Ein solcher »Instinkt«, der auf sehr sicherm Wissen beruht, bildet sich auch für die topographische Kenntnis des Terrains heraus: unsere beiden Autoritäten Vogel, der nie im Sertão gewesen war, und Antonio, dem Geologie und Mathematik in gleicher Weise fremd geblieben waren, hatten über den Verlauf der Chapadões und der Cabeceiras, von dem unsere Marschrichtung abhängen musste, zuweilen recht verschiedene Ansichten und es kam dazu, dass sie eine Zeit lang einander unfreundlich und damit auch falsch beurteilten. Vielleicht habe ich, der Beschwerden des Weges, des Durstes, der Monotonie des Landschaftsbildes gedenkend, eine ungünstigere Meinung von dem Sertão der Trockenzeit erweckt als billig ist. So darf ich nicht unterlassen auch einige Lichtpunkte zu zeigen. Da ist nun vor allem hervorzuheben, dass die kühlen Nächte und der Schlaf im Freien ungemein erfrischten, und dass man sich an jedem jungen Morgen wieder im Vollbesitz der leiblichen und geistigen Elastizität befand; da ist nicht zu vergessen, dass man auch auf angestrengtem Marsch nicht schwitzte, weil die trockene Luft den Schweiss schon im Entstehen aufsog, und dass die Tage, an denen man mehrere Stunden hintereinander gar kein Wasser oder auf dem Grund eines hohen verstaubten Bambusdickichts nur eine salzig- bittere Lache fand, zu den Ausnahmen gehörten. Wie köstlich waren auch — wenigstens so lange die Lasttiere noch nicht angelangt waren und die schwierige Passage noch keine Sorge machte — die etwa 10 Schritt breiten, tief einge- schnittenen, von überhängendem Gezweig beschatteten Bachbetten, wo man unter der grünen Wölbung auf einer rötlichen Sandsteinfliese an dem kristallklaren Wässerchen sass, mit vollem Becher schöpfte, das Pfeifchen genoss und mit dem nackten Fuss plätschernd die hurtigen, in ihren gestreiften Schwimmanzügen aller- liebst aussehenden Lambaré-Fischchen aufscheuchte oder einen der handgrossen

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Zitationshilfe: Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894, S. 31. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinen_naturvoelker_1894/55>, abgerufen am 27.11.2024.