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Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894.

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Schwingungen wiegend. Gedanken hatte ich eigentlich nicht und das that wohl.
Auch Sehnsucht hatte ich nicht nach den Genüssen, die uns daheim unentbehrlich
scheinen. In meinem Pfeifchen und in meiner Kerze erschöpfte sich alles Be-
dürfnis nach Glück. Im Augenblick galt mir um Vieles mehr als ein Seidel
"Echtes" oder eine Flasche Rauenthaler die Kürbisschale frischen Bachwassers,
die Carlos mir an die Hängematte reichte; kaltherzig gedachte ich jener Dinge
wie einer blassen Vergangenheit. Ich sagte mir, dass es die Stunde sei, wo man
sich daheim zu Konzert, Theater, Gesellschaft begiebt. Und unversehens wusste
ich mich selbst inmitten des Berliner Strassengetriebes, ich trat vor eine Litfass-
säule, las die bunten Anschläge von oben nach unten und ging lesend rund
herum, aber mein Puls blieb ruhig, und es regte sich kein Zucken der Begehrlich-
keit. Stillvergnügt bemerkte ich nur, dass ich kein Geld bei mir hatte, und dass
meine Toilette für die Linden polizeiwidrig war; mit der Empfindung harmlosen
Spottes schaute ich auf die Zeitungsverkäufer, die rollenden Wagen, die erleuchteten
Läden, die treibende Menschenmenge, gern kehrte ich zurück an meinen dunklen
Urwaldfluss.

Aber sind denn auch sie so leicht zu entbehren, fragte ich mich in meinem
träumerischen Dusel, sie, die unsere ganze Empfindungswelt beherrschen und be-
seelen? Eines wenigstens war gewiss: würde das Wunder geschehen sein, was
nicht geschah, und hätten mich aus dem Gezweig urplötzlich ein paar der
blühendsten Lippen verführerisch angelächelt -- ich würde geraucht und freundlich
um die Erlaubnis gebeten haben, weiter zu rauchen. Das Beste, folgerte ich,
scheint es demnach zu sein, wenn wir mit der Erinnerung an feinere Genüsse ein
stilles Glück in den allereinfachsten finden können; der Philosoph von Wiedensahl
hat wieder einmal Recht: "Zufriedenheit ist das Vergnügen an Dingen, welche wir
nicht kriegen".

Und dennoch, nur und allein um der braunen Bohnen oder der Wildnis
und Stromschnellen willen würde ich Berlin nicht mit dem Schingu vertauscht
haben; ohne einen höheren Zweck, eine Hoffnung also, die in ernsten Kultur-
begriffen wurzelt, würde auch die echteste Natur sehr bald wohl unausstehlich
werden. Drollig genug, dass Unsereins von Deutschland herüberkommt und hier
vielleicht sein kostbares Leben aufs Spiel setzt -- um die Heimat der Karaiben
zu suchen! "Was ist ihm Hekuba?" Was ist mir Cuyaba und Karaiba?

Doch es giebt Probleme so verzwickt und unergründlich, dass man sie mit
hungrigem Magen nicht zu lösen vermag, und es war gut, dass Carlos vom Feuer
her endlich seinen Triumphruf "Pronto" erschallen liess. Die Bohnen standen an-
gerichtet auf dem Boden, das Farinhasäckchen lag daneben, von dem eingerammten
Holzspiess winkte wohlwollend noch ein Rest Mutung -- mochten die Grillen im
Walde weiter zirpen.

Um 61/2 Uhr (10. September 1887) fuhren wir ab, begierig der Dinge, die
nach den Vorzeichen des gestrigen Tages heute kommen würden. Nach 20 Mi-
nuten mündete auf der rechten Seite ein Fluss in den unsern ein, ebenso stiller

Schwingungen wiegend. Gedanken hatte ich eigentlich nicht und das that wohl.
Auch Sehnsucht hatte ich nicht nach den Genüssen, die uns daheim unentbehrlich
scheinen. In meinem Pfeifchen und in meiner Kerze erschöpfte sich alles Be-
dürfnis nach Glück. Im Augenblick galt mir um Vieles mehr als ein Seidel
»Echtes« oder eine Flasche Rauenthaler die Kürbisschale frischen Bachwassers,
die Carlos mir an die Hängematte reichte; kaltherzig gedachte ich jener Dinge
wie einer blassen Vergangenheit. Ich sagte mir, dass es die Stunde sei, wo man
sich daheim zu Konzert, Theater, Gesellschaft begiebt. Und unversehens wusste
ich mich selbst inmitten des Berliner Strassengetriebes, ich trat vor eine Litfass-
säule, las die bunten Anschläge von oben nach unten und ging lesend rund
herum, aber mein Puls blieb ruhig, und es regte sich kein Zucken der Begehrlich-
keit. Stillvergnügt bemerkte ich nur, dass ich kein Geld bei mir hatte, und dass
meine Toilette für die Linden polizeiwidrig war; mit der Empfindung harmlosen
Spottes schaute ich auf die Zeitungsverkäufer, die rollenden Wagen, die erleuchteten
Läden, die treibende Menschenmenge, gern kehrte ich zurück an meinen dunklen
Urwaldfluss.

Aber sind denn auch sie so leicht zu entbehren, fragte ich mich in meinem
träumerischen Dusel, sie, die unsere ganze Empfindungswelt beherrschen und be-
seelen? Eines wenigstens war gewiss: würde das Wunder geschehen sein, was
nicht geschah, und hätten mich aus dem Gezweig urplötzlich ein paar der
blühendsten Lippen verführerisch angelächelt — ich würde geraucht und freundlich
um die Erlaubnis gebeten haben, weiter zu rauchen. Das Beste, folgerte ich,
scheint es demnach zu sein, wenn wir mit der Erinnerung an feinere Genüsse ein
stilles Glück in den allereinfachsten finden können; der Philosoph von Wiedensahl
hat wieder einmal Recht: »Zufriedenheit ist das Vergnügen an Dingen, welche wir
nicht kriegen«.

Und dennoch, nur und allein um der braunen Bohnen oder der Wildnis
und Stromschnellen willen würde ich Berlin nicht mit dem Schingú vertauscht
haben; ohne einen höheren Zweck, eine Hoffnung also, die in ernsten Kultur-
begriffen wurzelt, würde auch die echteste Natur sehr bald wohl unausstehlich
werden. Drollig genug, dass Unsereins von Deutschland herüberkommt und hier
vielleicht sein kostbares Leben aufs Spiel setzt — um die Heimat der Karaiben
zu suchen! »Was ist ihm Hekuba?« Was ist mir Cuyabá und Karáiba?

Doch es giebt Probleme so verzwickt und unergründlich, dass man sie mit
hungrigem Magen nicht zu lösen vermag, und es war gut, dass Carlos vom Feuer
her endlich seinen Triumphruf »Pronto« erschallen liess. Die Bohnen standen an-
gerichtet auf dem Boden, das Farinhasäckchen lag daneben, von dem eingerammten
Holzspiess winkte wohlwollend noch ein Rest Mutung — mochten die Grillen im
Walde weiter zirpen.

Um 6½ Uhr (10. September 1887) fuhren wir ab, begierig der Dinge, die
nach den Vorzeichen des gestrigen Tages heute kommen würden. Nach 20 Mi-
nuten mündete auf der rechten Seite ein Fluss in den unsern ein, ebenso stiller

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[50/0078] Schwingungen wiegend. Gedanken hatte ich eigentlich nicht und das that wohl. Auch Sehnsucht hatte ich nicht nach den Genüssen, die uns daheim unentbehrlich scheinen. In meinem Pfeifchen und in meiner Kerze erschöpfte sich alles Be- dürfnis nach Glück. Im Augenblick galt mir um Vieles mehr als ein Seidel »Echtes« oder eine Flasche Rauenthaler die Kürbisschale frischen Bachwassers, die Carlos mir an die Hängematte reichte; kaltherzig gedachte ich jener Dinge wie einer blassen Vergangenheit. Ich sagte mir, dass es die Stunde sei, wo man sich daheim zu Konzert, Theater, Gesellschaft begiebt. Und unversehens wusste ich mich selbst inmitten des Berliner Strassengetriebes, ich trat vor eine Litfass- säule, las die bunten Anschläge von oben nach unten und ging lesend rund herum, aber mein Puls blieb ruhig, und es regte sich kein Zucken der Begehrlich- keit. Stillvergnügt bemerkte ich nur, dass ich kein Geld bei mir hatte, und dass meine Toilette für die Linden polizeiwidrig war; mit der Empfindung harmlosen Spottes schaute ich auf die Zeitungsverkäufer, die rollenden Wagen, die erleuchteten Läden, die treibende Menschenmenge, gern kehrte ich zurück an meinen dunklen Urwaldfluss. Aber sind denn auch sie so leicht zu entbehren, fragte ich mich in meinem träumerischen Dusel, sie, die unsere ganze Empfindungswelt beherrschen und be- seelen? Eines wenigstens war gewiss: würde das Wunder geschehen sein, was nicht geschah, und hätten mich aus dem Gezweig urplötzlich ein paar der blühendsten Lippen verführerisch angelächelt — ich würde geraucht und freundlich um die Erlaubnis gebeten haben, weiter zu rauchen. Das Beste, folgerte ich, scheint es demnach zu sein, wenn wir mit der Erinnerung an feinere Genüsse ein stilles Glück in den allereinfachsten finden können; der Philosoph von Wiedensahl hat wieder einmal Recht: »Zufriedenheit ist das Vergnügen an Dingen, welche wir nicht kriegen«. Und dennoch, nur und allein um der braunen Bohnen oder der Wildnis und Stromschnellen willen würde ich Berlin nicht mit dem Schingú vertauscht haben; ohne einen höheren Zweck, eine Hoffnung also, die in ernsten Kultur- begriffen wurzelt, würde auch die echteste Natur sehr bald wohl unausstehlich werden. Drollig genug, dass Unsereins von Deutschland herüberkommt und hier vielleicht sein kostbares Leben aufs Spiel setzt — um die Heimat der Karaiben zu suchen! »Was ist ihm Hekuba?« Was ist mir Cuyabá und Karáiba? Doch es giebt Probleme so verzwickt und unergründlich, dass man sie mit hungrigem Magen nicht zu lösen vermag, und es war gut, dass Carlos vom Feuer her endlich seinen Triumphruf »Pronto« erschallen liess. Die Bohnen standen an- gerichtet auf dem Boden, das Farinhasäckchen lag daneben, von dem eingerammten Holzspiess winkte wohlwollend noch ein Rest Mutung — mochten die Grillen im Walde weiter zirpen. Um 6½ Uhr (10. September 1887) fuhren wir ab, begierig der Dinge, die nach den Vorzeichen des gestrigen Tages heute kommen würden. Nach 20 Mi- nuten mündete auf der rechten Seite ein Fluss in den unsern ein, ebenso stiller

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Zitationshilfe: Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894, S. 50. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinen_naturvoelker_1894/78>, abgerufen am 25.11.2024.