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Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894.

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man rauchte Zigarren oder richtiger Zigaretten, allerdings 25 cm lang. Das Wickel-
blatt war noch grün und wurde nur einige Augenblicke über dem Feuer gehalten,
es verbreitete einen balsamischen Geruch. Die Zigarre ging häufig aus, man hielt sie
an die Kohle, um sie wieder anzuzünden. Gelegentlich liess man sich auch Feuer von
der Zigarre des Nachbars geben, überreichte ihm dann aber die eigene, die jener in
den Mund nahm und anzündete. Der Rauch wurde geschluckt. Auch meinen
schweren schwarzen Tabak rauchten sie auf dieselbe Weise und in demselben For-
mat und vertrugen ihn, obwohl der ihrige leicht wie Stroh war, ohne Schwierigkeit.

Aus den Häusern drang kein Laut hervor, das Geflecht an dem Eingang
war vorgeschoben. Ob die Frauen nicht wach in der Hängematte lagen? Die
beiden Araras, die von den Dachstangen tagsüber zu krächzen pflegten, schliefen
auf einer halbverdorrten Palme. Keine Insekten belästigten uns. Zwei, drei
Stunden lang sassen wir unter dem sternfunkelnden Himmelsgewölbe, rings von
der dunkeln Waldmasse umgeben. Das kleinste Wölkchen, das irgendwo auf-
stieg, wurde bemerkt und einer Erörterung über Woher und Wohin unterworfen.
Sobald ein Tierlaut im Walde hörbar wurde, verstummte Alles einen Augenblick,
wartete, ob er sich wiederhole, und man flüsterte sich zu "ein Tapir", "ein
Riesengürteltier" oder dergleichen, während Einer halb mechanisch den Tierruf
nachpfiff. Auch an unwillkürlichen Lauten fehlte es nicht. Speichelschlürfen,
Aufstossen, Blähungen erfuhren keine Hemmung. Bakairi sum, nihil humani a me
alienum puto. Aber in dem Augenblick, wenn einer sich gar zu schlecht auf-
führte, erfolgte sofort als unmittelbare Reflexbewegung aller Kollegen ein kurzes
heftiges Ausspucken nach der Seite, ohne dass die Unterhaltung stockte. Im
Wiederholungsfall freilich brummte Tumayaua oder Paleko etwas, was zu heissen
schien: "Donnerwetter, wir haben doch einen Gast", und der Uebelthäter verlor
sich auf sechs Schritt weg im Schatten. Es war sehr patriarchalisch.

Das für mich wichtigste Thema, die Geographie des Kulisehu, nahmen wir
ausführlich durch. Der Fluss wurde in den Sand gezeichnet, die Stämme wurden
aufgezählt und mit Maiskörnern bezeichnet. Allmählich lernte ich so das richtige
Verhältnis von Kulisehu und Kuluene verstehen und erfuhr, dass die Hauptmasse
der Nahuquastämme, deren jeder mit einem besondern Namen bezeichnet wurde,
am Kuluene sass. Alle Leute waren entweder gut "kura" oder schlecht "kurapa".
Hauptsächlich richtete sich die Unterscheidung, wie ich zu meinem Erstaunen
merkte, nach dem Umfang der Gastfreundschaft, die sie ausübten; "kura" sein
hiess, es beim Empfang an Beijus und Püserego, den Fladen und dem besten
Kleistertrank aus Mandioka, nicht fehlen lassen. Es war zum Teil, was die
Nahuqua und etwa noch die Mehinaku betraf, nach eigenen Erfahrungen, zum
Teil nach Hörensagen dieselbe Information, die bei unsern Herbstreisen als die
wichtigste gilt: gute und schlechte Hotels.

Aber welcher Unterschied zwischen einem gedruckten Baedeker und dieser
Gestikulation, dieser Tonmalerei, dieser sich von Etappe zu Etappe mitleidlos
weiterschleichenden Aufzählung der Stationen! Von uns bis zum zweiten Bakairi-

man rauchte Zigarren oder richtiger Zigaretten, allerdings 25 cm lang. Das Wickel-
blatt war noch grün und wurde nur einige Augenblicke über dem Feuer gehalten,
es verbreitete einen balsamischen Geruch. Die Zigarre ging häufig aus, man hielt sie
an die Kohle, um sie wieder anzuzünden. Gelegentlich liess man sich auch Feuer von
der Zigarre des Nachbars geben, überreichte ihm dann aber die eigene, die jener in
den Mund nahm und anzündete. Der Rauch wurde geschluckt. Auch meinen
schweren schwarzen Tabak rauchten sie auf dieselbe Weise und in demselben For-
mat und vertrugen ihn, obwohl der ihrige leicht wie Stroh war, ohne Schwierigkeit.

Aus den Häusern drang kein Laut hervor, das Geflecht an dem Eingang
war vorgeschoben. Ob die Frauen nicht wach in der Hängematte lagen? Die
beiden Araras, die von den Dachstangen tagsüber zu krächzen pflegten, schliefen
auf einer halbverdorrten Palme. Keine Insekten belästigten uns. Zwei, drei
Stunden lang sassen wir unter dem sternfunkelnden Himmelsgewölbe, rings von
der dunkeln Waldmasse umgeben. Das kleinste Wölkchen, das irgendwo auf-
stieg, wurde bemerkt und einer Erörterung über Woher und Wohin unterworfen.
Sobald ein Tierlaut im Walde hörbar wurde, verstummte Alles einen Augenblick,
wartete, ob er sich wiederhole, und man flüsterte sich zu »ein Tapir«, »ein
Riesengürteltier« oder dergleichen, während Einer halb mechanisch den Tierruf
nachpfiff. Auch an unwillkürlichen Lauten fehlte es nicht. Speichelschlürfen,
Aufstossen, Blähungen erfuhren keine Hemmung. Bakaïrí sum, nihil humani a me
alienum puto. Aber in dem Augenblick, wenn einer sich gar zu schlecht auf-
führte, erfolgte sofort als unmittelbare Reflexbewegung aller Kollegen ein kurzes
heftiges Ausspucken nach der Seite, ohne dass die Unterhaltung stockte. Im
Wiederholungsfall freilich brummte Tumayaua oder Paleko etwas, was zu heissen
schien: »Donnerwetter, wir haben doch einen Gast«, und der Uebelthäter verlor
sich auf sechs Schritt weg im Schatten. Es war sehr patriarchalisch.

Das für mich wichtigste Thema, die Geographie des Kulisehu, nahmen wir
ausführlich durch. Der Fluss wurde in den Sand gezeichnet, die Stämme wurden
aufgezählt und mit Maiskörnern bezeichnet. Allmählich lernte ich so das richtige
Verhältnis von Kulisehu und Kuluëne verstehen und erfuhr, dass die Hauptmasse
der Nahuquástämme, deren jeder mit einem besondern Namen bezeichnet wurde,
am Kuluëne sass. Alle Leute waren entweder gut »kúra« oder schlecht »kurápa«.
Hauptsächlich richtete sich die Unterscheidung, wie ich zu meinem Erstaunen
merkte, nach dem Umfang der Gastfreundschaft, die sie ausübten; »kúra« sein
hiess, es beim Empfang an Beijús und Püserego, den Fladen und dem besten
Kleistertrank aus Mandioka, nicht fehlen lassen. Es war zum Teil, was die
Nahuquá und etwa noch die Mehinakú betraf, nach eigenen Erfahrungen, zum
Teil nach Hörensagen dieselbe Information, die bei unsern Herbstreisen als die
wichtigste gilt: gute und schlechte Hôtels.

Aber welcher Unterschied zwischen einem gedruckten Baedeker und dieser
Gestikulation, dieser Tonmalerei, dieser sich von Etappe zu Etappe mitleidlos
weiterschleichenden Aufzählung der Stationen! Von uns bis zum zweiten Bakaïrí-

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[69/0097] man rauchte Zigarren oder richtiger Zigaretten, allerdings 25 cm lang. Das Wickel- blatt war noch grün und wurde nur einige Augenblicke über dem Feuer gehalten, es verbreitete einen balsamischen Geruch. Die Zigarre ging häufig aus, man hielt sie an die Kohle, um sie wieder anzuzünden. Gelegentlich liess man sich auch Feuer von der Zigarre des Nachbars geben, überreichte ihm dann aber die eigene, die jener in den Mund nahm und anzündete. Der Rauch wurde geschluckt. Auch meinen schweren schwarzen Tabak rauchten sie auf dieselbe Weise und in demselben For- mat und vertrugen ihn, obwohl der ihrige leicht wie Stroh war, ohne Schwierigkeit. Aus den Häusern drang kein Laut hervor, das Geflecht an dem Eingang war vorgeschoben. Ob die Frauen nicht wach in der Hängematte lagen? Die beiden Araras, die von den Dachstangen tagsüber zu krächzen pflegten, schliefen auf einer halbverdorrten Palme. Keine Insekten belästigten uns. Zwei, drei Stunden lang sassen wir unter dem sternfunkelnden Himmelsgewölbe, rings von der dunkeln Waldmasse umgeben. Das kleinste Wölkchen, das irgendwo auf- stieg, wurde bemerkt und einer Erörterung über Woher und Wohin unterworfen. Sobald ein Tierlaut im Walde hörbar wurde, verstummte Alles einen Augenblick, wartete, ob er sich wiederhole, und man flüsterte sich zu »ein Tapir«, »ein Riesengürteltier« oder dergleichen, während Einer halb mechanisch den Tierruf nachpfiff. Auch an unwillkürlichen Lauten fehlte es nicht. Speichelschlürfen, Aufstossen, Blähungen erfuhren keine Hemmung. Bakaïrí sum, nihil humani a me alienum puto. Aber in dem Augenblick, wenn einer sich gar zu schlecht auf- führte, erfolgte sofort als unmittelbare Reflexbewegung aller Kollegen ein kurzes heftiges Ausspucken nach der Seite, ohne dass die Unterhaltung stockte. Im Wiederholungsfall freilich brummte Tumayaua oder Paleko etwas, was zu heissen schien: »Donnerwetter, wir haben doch einen Gast«, und der Uebelthäter verlor sich auf sechs Schritt weg im Schatten. Es war sehr patriarchalisch. Das für mich wichtigste Thema, die Geographie des Kulisehu, nahmen wir ausführlich durch. Der Fluss wurde in den Sand gezeichnet, die Stämme wurden aufgezählt und mit Maiskörnern bezeichnet. Allmählich lernte ich so das richtige Verhältnis von Kulisehu und Kuluëne verstehen und erfuhr, dass die Hauptmasse der Nahuquástämme, deren jeder mit einem besondern Namen bezeichnet wurde, am Kuluëne sass. Alle Leute waren entweder gut »kúra« oder schlecht »kurápa«. Hauptsächlich richtete sich die Unterscheidung, wie ich zu meinem Erstaunen merkte, nach dem Umfang der Gastfreundschaft, die sie ausübten; »kúra« sein hiess, es beim Empfang an Beijús und Püserego, den Fladen und dem besten Kleistertrank aus Mandioka, nicht fehlen lassen. Es war zum Teil, was die Nahuquá und etwa noch die Mehinakú betraf, nach eigenen Erfahrungen, zum Teil nach Hörensagen dieselbe Information, die bei unsern Herbstreisen als die wichtigste gilt: gute und schlechte Hôtels. Aber welcher Unterschied zwischen einem gedruckten Baedeker und dieser Gestikulation, dieser Tonmalerei, dieser sich von Etappe zu Etappe mitleidlos weiterschleichenden Aufzählung der Stationen! Von uns bis zum zweiten Bakaïrí-

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Zitationshilfe: Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894, S. 69. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinen_naturvoelker_1894/97>, abgerufen am 23.11.2024.