Wir wissen aber schon längst, daß wir von Becker keine ge- netische Entwickelung, d. h. keine Darstellung der Entste- hung, des allmählichen, stufenweise vorschreitenden Werdens der Sache, hier der Erkenntniß, des Denkens, fordern dürfen; wir sehen hier nur wieder ein auffallendes Beispiel davon, wie sich der Mangel an Dialektik rächt, wie er gleichbedeutend ist mit gedankenloser Tautologie und, im Grunde genommen, Sophistik. Denn der Grundfehler lag schon in der Weise wie Becker die Aufgabe aussprach: "Die Verrichtung des Denkens und die ei- gentliche Aufgabe des denkenden Geistes besteht nur darin, daß der Geist die durch die Sinne angeschaute Welt in sich auf- nimmt u. s. w." Hier wird der Geist, das Denken, vorausgesetzt als seiend vor der Aufnahme und Assimilation der realen Welt; der Geist ist aber eben gar nicht vorher, sondern er entsteht erst mit der Umbildung der realen Welt in eine geistige. Mit dem Worte Geist, Denken hat Becker das Erzeugniß des Vor- ganges schon vorausgesetzt, bevor er noch an die Darstellung des Vorganges gekommen ist. Ist bei solchem Anfange etwas anderes als nichtssagende Tautologie möglich? "Was die sinn- liche Anschauung giebt, ist nur der Stoff, den der Geist seiner eigenen Natur auf organische Weise assimilirt" -- wie soll aber der Geist assimiliren, der erst durch diese Assimilation entsteht? Sich diese Schwierigkeit vorzuhalten, wäre eben Dialektik gewesen.
Jene Assimilation ist nun eine organische. Worin bestand doch das Wesen des Organismus? War's nicht, in der Verleib- lichung eines Gedankens? Hier aber scheint das Gegentheil der Fall zu sein: der organische Vorgang des Denkens ist Entleib- lichung der Natur. Man vergesse aber nicht: "Indem der Mensch die reale Welt außer ihm in eine geistige Welt von Gedanken und Begriffen in ihm verwandelt, werden Gedanken und Begriffe sogleich wieder leiblich in der Sprache." Diese Verleiblichung ist das Organische beim Denken. Indessen verläßt uns das Be- denken nicht, wenn auch der Begriff "sogleich wieder leiblich in der Sprache wird," so ist er doch erst entstanden; diese Ent- stehung ist die eigentliche Assimilation, aber eine Entleibung der Natur, und also nicht organisch. Dann ist freilich auch die Spra- che nicht mehr organisch, wie schon oben gezeigt ist.
Trotz allem müssen wir uns doch einmal entschließen, die Welt mit Becker "tiefer zu betrachten." Was sehen wir? "Ue- berall in der realen Welt ist das Eine um des Andern willen,
Wir wissen aber schon längst, daß wir von Becker keine ge- netische Entwickelung, d. h. keine Darstellung der Entste- hung, des allmählichen, stufenweise vorschreitenden Werdens der Sache, hier der Erkenntniß, des Denkens, fordern dürfen; wir sehen hier nur wieder ein auffallendes Beispiel davon, wie sich der Mangel an Dialektik rächt, wie er gleichbedeutend ist mit gedankenloser Tautologie und, im Grunde genommen, Sophistik. Denn der Grundfehler lag schon in der Weise wie Becker die Aufgabe aussprach: „Die Verrichtung des Denkens und die ei- gentliche Aufgabe des denkenden Geistes besteht nur darin, daß der Geist die durch die Sinne angeschaute Welt in sich auf- nimmt u. s. w.“ Hier wird der Geist, das Denken, vorausgesetzt als seiend vor der Aufnahme und Assimilation der realen Welt; der Geist ist aber eben gar nicht vorher, sondern er entsteht erst mit der Umbildung der realen Welt in eine geistige. Mit dem Worte Geist, Denken hat Becker das Erzeugniß des Vor- ganges schon vorausgesetzt, bevor er noch an die Darstellung des Vorganges gekommen ist. Ist bei solchem Anfange etwas anderes als nichtssagende Tautologie möglich? „Was die sinn- liche Anschauung giebt, ist nur der Stoff, den der Geist seiner eigenen Natur auf organische Weise assimilirt“ — wie soll aber der Geist assimiliren, der erst durch diese Assimilation entsteht? Sich diese Schwierigkeit vorzuhalten, wäre eben Dialektik gewesen.
Jene Assimilation ist nun eine organische. Worin bestand doch das Wesen des Organismus? War’s nicht, in der Verleib- lichung eines Gedankens? Hier aber scheint das Gegentheil der Fall zu sein: der organische Vorgang des Denkens ist Entleib- lichung der Natur. Man vergesse aber nicht: „Indem der Mensch die reale Welt außer ihm in eine geistige Welt von Gedanken und Begriffen in ihm verwandelt, werden Gedanken und Begriffe sogleich wieder leiblich in der Sprache.“ Diese Verleiblichung ist das Organische beim Denken. Indessen verläßt uns das Be- denken nicht, wenn auch der Begriff „sogleich wieder leiblich in der Sprache wird,“ so ist er doch erst entstanden; diese Ent- stehung ist die eigentliche Assimilation, aber eine Entleibung der Natur, und also nicht organisch. Dann ist freilich auch die Spra- che nicht mehr organisch, wie schon oben gezeigt ist.
Trotz allem müssen wir uns doch einmal entschließen, die Welt mit Becker „tiefer zu betrachten.“ Was sehen wir? „Ue- berall in der realen Welt ist das Eine um des Andern willen,
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Wir wissen aber schon längst, daß wir von Becker keine ge-
netische Entwickelung, d. h. keine Darstellung der Entste-
hung, des allmählichen, stufenweise vorschreitenden Werdens der
Sache, hier der Erkenntniß, des Denkens, fordern dürfen; wir
sehen hier nur wieder ein auffallendes Beispiel davon, wie sich
der Mangel an Dialektik rächt, wie er gleichbedeutend ist mit
gedankenloser Tautologie und, im Grunde genommen, Sophistik.
Denn der Grundfehler lag schon in der Weise wie Becker die
Aufgabe aussprach: „Die Verrichtung des Denkens und die ei-
gentliche Aufgabe des denkenden Geistes besteht nur darin, daß
der Geist die durch die Sinne angeschaute Welt in sich auf-
nimmt u. s. w.“ Hier wird der Geist, das Denken, vorausgesetzt
als seiend vor der Aufnahme und Assimilation der realen Welt;
der Geist ist aber eben gar nicht vorher, sondern er entsteht
erst mit der Umbildung der realen Welt in eine geistige. Mit
dem Worte Geist, Denken hat Becker das Erzeugniß des Vor-
ganges schon vorausgesetzt, bevor er noch an die Darstellung
des Vorganges gekommen ist. Ist bei solchem Anfange etwas
anderes als nichtssagende Tautologie möglich? „Was die sinn-
liche Anschauung giebt, ist nur der Stoff, den der Geist seiner
eigenen Natur auf organische Weise assimilirt“ — wie soll aber
der Geist assimiliren, der erst durch diese Assimilation entsteht?
Sich diese Schwierigkeit vorzuhalten, wäre eben Dialektik gewesen.
Jene Assimilation ist nun eine organische. Worin bestand
doch das Wesen des Organismus? War’s nicht, in der Verleib-
lichung eines Gedankens? Hier aber scheint das Gegentheil der
Fall zu sein: der organische Vorgang des Denkens ist Entleib-
lichung der Natur. Man vergesse aber nicht: „Indem der Mensch
die reale Welt außer ihm in eine geistige Welt von Gedanken
und Begriffen in ihm verwandelt, werden Gedanken und Begriffe
sogleich wieder leiblich in der Sprache.“ Diese Verleiblichung
ist das Organische beim Denken. Indessen verläßt uns das Be-
denken nicht, wenn auch der Begriff „sogleich wieder leiblich
in der Sprache wird,“ so ist er doch erst entstanden; diese Ent-
stehung ist die eigentliche Assimilation, aber eine Entleibung der
Natur, und also nicht organisch. Dann ist freilich auch die Spra-
che nicht mehr organisch, wie schon oben gezeigt ist.
Trotz allem müssen wir uns doch einmal entschließen, die
Welt mit Becker „tiefer zu betrachten.“ Was sehen wir? „Ue-
berall in der realen Welt ist das Eine um des Andern willen,
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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 80. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/118>, abgerufen am 21.11.2024.
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