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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

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unvollständige Auffassung des Begriffs; es ist aber eben die der
formalen Logik. Die materialen Wissenschaften treten ergän-
zend hinzu, und selbst indem sie dies thun, muß die Logik sie
bewachen. Die Logik hat gegen einen Fisch oder einen Löwen
mit dem Kopfe und der Brust eines Weibes keine Einwendung
zu machen. Ihr ist der Begriff der Sphinx gegeben, als eine
Zusammenfassung von Merkmalen, welche sich als gedachte Mo-
mente unter einander nicht stören; also findet sie den Begriff
nicht unrichtig. Der vergleichende Anatom findet allerdings,
daß sich jene Merkmale stören, daß sie unvereinbar sind; und
nun ist es die Anatomie, oder vielmehr die Logik des Anatomen,
welche die Sphinx für einen unrichtigen Begriff erklärt. Hier-
mit soll nicht gesagt sein, daß es mehrere Logiken giebt, son-
dern wir meinen Folgendes. Dem Logiker sind mit dem Begriffe
der Sphinx die beiden Merkmale eines menschlichen Oberkörpers
und eines thierischen Unterkörpers gegeben. Da dies völlig
disparate Begriffe sind, so hält er ihre Vereinigung nicht für
unrichtig. Die Anatomie zeigt ihm aber, daß diese Begriffe
nicht disparat sind, daß im menschlichen Oberkörper ganz
bestimmte Beziehungen liegen, und ebenso im thierischen Unter-
körper, und daß diese verschiedenen Beziehungen in conträrem
Gegensatze stehen. Jetzt corrigirt sich der Logiker; wenn dem
so ist, sagt er, so ist die Sphinx ein durchaus unstatthafter Be-
griff. Hiermit ist aber die formale Logik schon zur angewand-
ten geworden.

Es ist hier noch eine andere Bemerkung zu machen. Tren-
delenburg scheint auch nicht gehörig beachtet zu haben, was es
heiße, wenn die formale Logik sagt, sie betrachte bloß das Ge-
dachte, nicht das Ding. Er bemerkt (S. 7): "Man wird die
Dinge doch nicht los; denn die Vorstellungen führen immer auf
das, dessen Gegenbild sie sind." Die Logik hat es aber nicht
bloß nicht mit den Dingen zu thun, sondern auch nicht mit
bestimmten Vorstellungen und Begriffen sondern nur mit dem
Gedachten überhaupt in Form von Begriffen, und Urtheilen und
Schlüssen. Ihr Gegenstand ist nicht dieser und jener Begriff
oder Schluß, sondern der Begriff, der Schluß überhaupt, das
Denken in diesen Formen. Der Begriff ist allerdings für sie
bloß eine Zusammenfassung von Merkmalen; aber sie weiß, daß
in jedem bestimmten Begriffe die Merkmale in einer bestimmten
Beziehung stehen. Von dieser Bestimmtheit der Beziehung muß

unvollständige Auffassung des Begriffs; es ist aber eben die der
formalen Logik. Die materialen Wissenschaften treten ergän-
zend hinzu, und selbst indem sie dies thun, muß die Logik sie
bewachen. Die Logik hat gegen einen Fisch oder einen Löwen
mit dem Kopfe und der Brust eines Weibes keine Einwendung
zu machen. Ihr ist der Begriff der Sphinx gegeben, als eine
Zusammenfassung von Merkmalen, welche sich als gedachte Mo-
mente unter einander nicht stören; also findet sie den Begriff
nicht unrichtig. Der vergleichende Anatom findet allerdings,
daß sich jene Merkmale stören, daß sie unvereinbar sind; und
nun ist es die Anatomie, oder vielmehr die Logik des Anatomen,
welche die Sphinx für einen unrichtigen Begriff erklärt. Hier-
mit soll nicht gesagt sein, daß es mehrere Logiken giebt, son-
dern wir meinen Folgendes. Dem Logiker sind mit dem Begriffe
der Sphinx die beiden Merkmale eines menschlichen Oberkörpers
und eines thierischen Unterkörpers gegeben. Da dies völlig
disparate Begriffe sind, so hält er ihre Vereinigung nicht für
unrichtig. Die Anatomie zeigt ihm aber, daß diese Begriffe
nicht disparat sind, daß im menschlichen Oberkörper ganz
bestimmte Beziehungen liegen, und ebenso im thierischen Unter-
körper, und daß diese verschiedenen Beziehungen in conträrem
Gegensatze stehen. Jetzt corrigirt sich der Logiker; wenn dem
so ist, sagt er, so ist die Sphinx ein durchaus unstatthafter Be-
griff. Hiermit ist aber die formale Logik schon zur angewand-
ten geworden.

Es ist hier noch eine andere Bemerkung zu machen. Tren-
delenburg scheint auch nicht gehörig beachtet zu haben, was es
heiße, wenn die formale Logik sagt, sie betrachte bloß das Ge-
dachte, nicht das Ding. Er bemerkt (S. 7): „Man wird die
Dinge doch nicht los; denn die Vorstellungen führen immer auf
das, dessen Gegenbild sie sind.“ Die Logik hat es aber nicht
bloß nicht mit den Dingen zu thun, sondern auch nicht mit
bestimmten Vorstellungen und Begriffen sondern nur mit dem
Gedachten überhaupt in Form von Begriffen, und Urtheilen und
Schlüssen. Ihr Gegenstand ist nicht dieser und jener Begriff
oder Schluß, sondern der Begriff, der Schluß überhaupt, das
Denken in diesen Formen. Der Begriff ist allerdings für sie
bloß eine Zusammenfassung von Merkmalen; aber sie weiß, daß
in jedem bestimmten Begriffe die Merkmale in einer bestimmten
Beziehung stehen. Von dieser Bestimmtheit der Beziehung muß

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[149/0187] unvollständige Auffassung des Begriffs; es ist aber eben die der formalen Logik. Die materialen Wissenschaften treten ergän- zend hinzu, und selbst indem sie dies thun, muß die Logik sie bewachen. Die Logik hat gegen einen Fisch oder einen Löwen mit dem Kopfe und der Brust eines Weibes keine Einwendung zu machen. Ihr ist der Begriff der Sphinx gegeben, als eine Zusammenfassung von Merkmalen, welche sich als gedachte Mo- mente unter einander nicht stören; also findet sie den Begriff nicht unrichtig. Der vergleichende Anatom findet allerdings, daß sich jene Merkmale stören, daß sie unvereinbar sind; und nun ist es die Anatomie, oder vielmehr die Logik des Anatomen, welche die Sphinx für einen unrichtigen Begriff erklärt. Hier- mit soll nicht gesagt sein, daß es mehrere Logiken giebt, son- dern wir meinen Folgendes. Dem Logiker sind mit dem Begriffe der Sphinx die beiden Merkmale eines menschlichen Oberkörpers und eines thierischen Unterkörpers gegeben. Da dies völlig disparate Begriffe sind, so hält er ihre Vereinigung nicht für unrichtig. Die Anatomie zeigt ihm aber, daß diese Begriffe nicht disparat sind, daß im menschlichen Oberkörper ganz bestimmte Beziehungen liegen, und ebenso im thierischen Unter- körper, und daß diese verschiedenen Beziehungen in conträrem Gegensatze stehen. Jetzt corrigirt sich der Logiker; wenn dem so ist, sagt er, so ist die Sphinx ein durchaus unstatthafter Be- griff. Hiermit ist aber die formale Logik schon zur angewand- ten geworden. Es ist hier noch eine andere Bemerkung zu machen. Tren- delenburg scheint auch nicht gehörig beachtet zu haben, was es heiße, wenn die formale Logik sagt, sie betrachte bloß das Ge- dachte, nicht das Ding. Er bemerkt (S. 7): „Man wird die Dinge doch nicht los; denn die Vorstellungen führen immer auf das, dessen Gegenbild sie sind.“ Die Logik hat es aber nicht bloß nicht mit den Dingen zu thun, sondern auch nicht mit bestimmten Vorstellungen und Begriffen sondern nur mit dem Gedachten überhaupt in Form von Begriffen, und Urtheilen und Schlüssen. Ihr Gegenstand ist nicht dieser und jener Begriff oder Schluß, sondern der Begriff, der Schluß überhaupt, das Denken in diesen Formen. Der Begriff ist allerdings für sie bloß eine Zusammenfassung von Merkmalen; aber sie weiß, daß in jedem bestimmten Begriffe die Merkmale in einer bestimmten Beziehung stehen. Von dieser Bestimmtheit der Beziehung muß

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Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 149. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/187>, abgerufen am 26.11.2024.