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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

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oder physiognomische Bewegungen kennen gelernt. Hierzu nehme
man nun noch, daß die Reflexionsbewegung durch die wach-
sende Bildung der Seele, die steigende Selbstherrschaft des Men-
schen gehemmt und dadurch unterdrückt und geschwächt wird,
woraus wir rückwärts schließen müssen, daß sie ursprünglich
beim Neugebornen und beim Wilden, noch mehr aber beim Ur-
menschen ungleich kräftiger, durchgängiger, und darum auch
bestimmter war, als wir sie heute an uns beobachten können:
so wird man es nicht allzu gewagt finden, wenn wir meinen,
daß bei den Urmenschen erstlich keine Seelenerregung vorging
ohne eine entsprechende, reflectirte körperliche Bewegung; und
zweitens auch, daß jeder bestimmten, besondern Seelenbewegung
eine bestimmte körperliche entsprach, welche physiognomisch und
tönend zugleich war.

Nachdem wir so die Elemente der Sprache, wie sie gewis-
sermaßen im vorsprachlichen Zustande der Menschen gegeben
sind, kennen gelernt haben, könnten wir versuchen, sie in das
lebendige Spiel der Sprachthätigkeit zu versetzen. Wir müssen
jedoch zuvor den innern Besitzstand der Seele auf ihrer vor-
sprachlichen und also -- da man die Sprache immer als Schei-
dungszeichen zwischen Mensch und Thier angesehen hat -- thie-
rischen Bildungsstufe etwas näher betrachten. Dies wird natür-
lich bloß darauf hinauslaufen, das Wesen der Empfindungs-
erkenntnisse,
der Wahrnehmung, zu entwickeln. Wir
können diese Arbeit nicht umgehen. Denn wir müssen doch
den Boden ausbreiten, auf oder aus welchem sich die Sprache
erhebt, um dann weiter sehen zu können, was und wie die Spra-
che, in Gemäßheit des ihr in der Seele Vorangehenden und der
allgemeinen Entwicklungsweise der Seele, für die Fortbildung
derselben, für die Entfaltung ihres Wesens wirkt; was die Seele
durch sie gewinnt, was sie sich in ihr schafft und giebt.

§. 88. Character der sinnlichen Wahrnehmung.

Man fühlt Lust und Unlust. Das Wort Gefühl bezeichnet
sowohl die allgemeine Fähigkeit des Fühlens, als auch eine Ver-
wirklichung derselben in einem besondern Falle. Man empfindet
vermittelst der Sinne die Elemente, Licht, Wärme, Ton u. s. w.
Man sagt aber wohl nicht: ich empfinde dich, den Tisch, eine
Blume
. Empfinden bedeutet also nur im Allgemeinen: ver-
mittelst der Sinne wahrnehmen; jede besondere Wahrnehmung
eines der Sinne wird nicht mehr mit dem allgemeinen Worte

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oder physiognomische Bewegungen kennen gelernt. Hierzu nehme
man nun noch, daß die Reflexionsbewegung durch die wach-
sende Bildung der Seele, die steigende Selbstherrschaft des Men-
schen gehemmt und dadurch unterdrückt und geschwächt wird,
woraus wir rückwärts schließen müssen, daß sie ursprünglich
beim Neugebornen und beim Wilden, noch mehr aber beim Ur-
menschen ungleich kräftiger, durchgängiger, und darum auch
bestimmter war, als wir sie heute an uns beobachten können:
so wird man es nicht allzu gewagt finden, wenn wir meinen,
daß bei den Urmenschen erstlich keine Seelenerregung vorging
ohne eine entsprechende, reflectirte körperliche Bewegung; und
zweitens auch, daß jeder bestimmten, besondern Seelenbewegung
eine bestimmte körperliche entsprach, welche physiognomisch und
tönend zugleich war.

Nachdem wir so die Elemente der Sprache, wie sie gewis-
sermaßen im vorsprachlichen Zustande der Menschen gegeben
sind, kennen gelernt haben, könnten wir versuchen, sie in das
lebendige Spiel der Sprachthätigkeit zu versetzen. Wir müssen
jedoch zuvor den innern Besitzstand der Seele auf ihrer vor-
sprachlichen und also — da man die Sprache immer als Schei-
dungszeichen zwischen Mensch und Thier angesehen hat — thie-
rischen Bildungsstufe etwas näher betrachten. Dies wird natür-
lich bloß darauf hinauslaufen, das Wesen der Empfindungs-
erkenntnisse,
der Wahrnehmung, zu entwickeln. Wir
können diese Arbeit nicht umgehen. Denn wir müssen doch
den Boden ausbreiten, auf oder aus welchem sich die Sprache
erhebt, um dann weiter sehen zu können, was und wie die Spra-
che, in Gemäßheit des ihr in der Seele Vorangehenden und der
allgemeinen Entwicklungsweise der Seele, für die Fortbildung
derselben, für die Entfaltung ihres Wesens wirkt; was die Seele
durch sie gewinnt, was sie sich in ihr schafft und giebt.

§. 88. Character der sinnlichen Wahrnehmung.

Man fühlt Lust und Unlust. Das Wort Gefühl bezeichnet
sowohl die allgemeine Fähigkeit des Fühlens, als auch eine Ver-
wirklichung derselben in einem besondern Falle. Man empfindet
vermittelst der Sinne die Elemente, Licht, Wärme, Ton u. s. w.
Man sagt aber wohl nicht: ich empfinde dich, den Tisch, eine
Blume
. Empfinden bedeutet also nur im Allgemeinen: ver-
mittelst der Sinne wahrnehmen; jede besondere Wahrnehmung
eines der Sinne wird nicht mehr mit dem allgemeinen Worte

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[259/0297] oder physiognomische Bewegungen kennen gelernt. Hierzu nehme man nun noch, daß die Reflexionsbewegung durch die wach- sende Bildung der Seele, die steigende Selbstherrschaft des Men- schen gehemmt und dadurch unterdrückt und geschwächt wird, woraus wir rückwärts schließen müssen, daß sie ursprünglich beim Neugebornen und beim Wilden, noch mehr aber beim Ur- menschen ungleich kräftiger, durchgängiger, und darum auch bestimmter war, als wir sie heute an uns beobachten können: so wird man es nicht allzu gewagt finden, wenn wir meinen, daß bei den Urmenschen erstlich keine Seelenerregung vorging ohne eine entsprechende, reflectirte körperliche Bewegung; und zweitens auch, daß jeder bestimmten, besondern Seelenbewegung eine bestimmte körperliche entsprach, welche physiognomisch und tönend zugleich war. Nachdem wir so die Elemente der Sprache, wie sie gewis- sermaßen im vorsprachlichen Zustande der Menschen gegeben sind, kennen gelernt haben, könnten wir versuchen, sie in das lebendige Spiel der Sprachthätigkeit zu versetzen. Wir müssen jedoch zuvor den innern Besitzstand der Seele auf ihrer vor- sprachlichen und also — da man die Sprache immer als Schei- dungszeichen zwischen Mensch und Thier angesehen hat — thie- rischen Bildungsstufe etwas näher betrachten. Dies wird natür- lich bloß darauf hinauslaufen, das Wesen der Empfindungs- erkenntnisse, der Wahrnehmung, zu entwickeln. Wir können diese Arbeit nicht umgehen. Denn wir müssen doch den Boden ausbreiten, auf oder aus welchem sich die Sprache erhebt, um dann weiter sehen zu können, was und wie die Spra- che, in Gemäßheit des ihr in der Seele Vorangehenden und der allgemeinen Entwicklungsweise der Seele, für die Fortbildung derselben, für die Entfaltung ihres Wesens wirkt; was die Seele durch sie gewinnt, was sie sich in ihr schafft und giebt. §. 88. Character der sinnlichen Wahrnehmung. Man fühlt Lust und Unlust. Das Wort Gefühl bezeichnet sowohl die allgemeine Fähigkeit des Fühlens, als auch eine Ver- wirklichung derselben in einem besondern Falle. Man empfindet vermittelst der Sinne die Elemente, Licht, Wärme, Ton u. s. w. Man sagt aber wohl nicht: ich empfinde dich, den Tisch, eine Blume. Empfinden bedeutet also nur im Allgemeinen: ver- mittelst der Sinne wahrnehmen; jede besondere Wahrnehmung eines der Sinne wird nicht mehr mit dem allgemeinen Worte 17*

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Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 259. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/297>, abgerufen am 22.11.2024.