det, doch rein der Seele angehört; denn sie ist nicht mehr, wie die Empfindung, sinnliches Auffassen, sondern Zusammenfassung, Synthesis des mannigfach Empfundenen. Sie ist dies freilich noch nicht als Thätigkeit, sondern als Zustand, nicht thätiges Zusammenfassen, sondern unmittelbare Zusammengefaßtheit, Ein- heit. Weil die Anschauung unmittelbares Ergebniß der Seele ist, darum ist die Wahrnehmung, nachdem sie bei der Empfin- dung gedient hat, für die Anschauung nicht mehr nöthig; denn die Anschauung hat eine andere Form als die Empfindung, hat aber nur den Empfindungsinhalt. Eben darum aber müssen wir auch die Anschauung noch als zu diesen niedrigern Bildungs- stufen der Seele gehörend ansehen, welche wir allgemein als die Stufe der Wahrnehmung bezeichnen können.
Im Gefühle ist die Seele die Substanz, und das Gefühl das Attribut. Die Substanz ist aber eben bloß ihr Attribut, beide sind in Einheit. So ist die Seele im Gefühle eins mit dem Ge- fühl. Weil sie die Substanz ist, so ist sie nicht Subject, wel- chem ein Object gegenüberstände; sondern das Object inhärirt ihr als Gefühlsattribut. -- In der Empfindung, welche Qualitä- ten zum Bewußtsein bringt, ist die Qualität Prädicat, und die Seele Subject: ich sehe Blau. Hier ist zwar keine Inhärenz mehr, aber doch Beziehung, d. h. hier gegenseitige Abhängigkeit, oder vielmehr das Verhältniß des Dazugehörens. Die empfundene Qualität ist nicht mehr die Seele, inhärirt ihr nicht mehr, son- dern gehört zu ihr. Auch hier also ist noch kein Object, also die Seele noch nicht Subjectivität, noch nicht Ich. Erst in der Anschauung befreit sich die Seele derartig von dem sinnlichen Eindrucke, daß sie ihn ganz außer sich, sich gegenüber stellt, indem sie nämlich die Qualitäten zusammengenommen einem Dinge zuschreibt. In der Anschauung spricht die Seele: das Wahrgenommene ist nicht ich, nicht mein Attribut, noch auch gehört es zu mir und ist mein Prädicat; sondern es ist Attribut eines Dinges. Die Seele weiß aber immer noch nichts von sich; sie weiß sich nicht als anschauende.
Mit diesem Mangel an Selbstbewußtsein steht in enger Ver- bindung, daß es auf diesem Gebiete der Anschauung, und über- haupt der Wahrnehmung, nichts Allgemeines, sondern nur Ein- zelnes giebt. Nur einzelne Qualitäten werden empfunden; nur einzelne Dinge angeschaut. Es giebt keine Anschauungen von Arten. Was man zuweilen so nennt, sind wissenschaftliche Ideen
det, doch rein der Seele angehört; denn sie ist nicht mehr, wie die Empfindung, sinnliches Auffassen, sondern Zusammenfassung, Synthesis des mannigfach Empfundenen. Sie ist dies freilich noch nicht als Thätigkeit, sondern als Zustand, nicht thätiges Zusammenfassen, sondern unmittelbare Zusammengefaßtheit, Ein- heit. Weil die Anschauung unmittelbares Ergebniß der Seele ist, darum ist die Wahrnehmung, nachdem sie bei der Empfin- dung gedient hat, für die Anschauung nicht mehr nöthig; denn die Anschauung hat eine andere Form als die Empfindung, hat aber nur den Empfindungsinhalt. Eben darum aber müssen wir auch die Anschauung noch als zu diesen niedrigern Bildungs- stufen der Seele gehörend ansehen, welche wir allgemein als die Stufe der Wahrnehmung bezeichnen können.
Im Gefühle ist die Seele die Substanz, und das Gefühl das Attribut. Die Substanz ist aber eben bloß ihr Attribut, beide sind in Einheit. So ist die Seele im Gefühle eins mit dem Ge- fühl. Weil sie die Substanz ist, so ist sie nicht Subject, wel- chem ein Object gegenüberstände; sondern das Object inhärirt ihr als Gefühlsattribut. — In der Empfindung, welche Qualitä- ten zum Bewußtsein bringt, ist die Qualität Prädicat, und die Seele Subject: ich sehe Blau. Hier ist zwar keine Inhärenz mehr, aber doch Beziehung, d. h. hier gegenseitige Abhängigkeit, oder vielmehr das Verhältniß des Dazugehörens. Die empfundene Qualität ist nicht mehr die Seele, inhärirt ihr nicht mehr, son- dern gehört zu ihr. Auch hier also ist noch kein Object, also die Seele noch nicht Subjectivität, noch nicht Ich. Erst in der Anschauung befreit sich die Seele derartig von dem sinnlichen Eindrucke, daß sie ihn ganz außer sich, sich gegenüber stellt, indem sie nämlich die Qualitäten zusammengenommen einem Dinge zuschreibt. In der Anschauung spricht die Seele: das Wahrgenommene ist nicht ich, nicht mein Attribut, noch auch gehört es zu mir und ist mein Prädicat; sondern es ist Attribut eines Dinges. Die Seele weiß aber immer noch nichts von sich; sie weiß sich nicht als anschauende.
Mit diesem Mangel an Selbstbewußtsein steht in enger Ver- bindung, daß es auf diesem Gebiete der Anschauung, und über- haupt der Wahrnehmung, nichts Allgemeines, sondern nur Ein- zelnes giebt. Nur einzelne Qualitäten werden empfunden; nur einzelne Dinge angeschaut. Es giebt keine Anschauungen von Arten. Was man zuweilen so nennt, sind wissenschaftliche Ideen
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det, doch rein der Seele angehört; denn sie ist nicht mehr, wie
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Synthesis des mannigfach Empfundenen. Sie ist dies freilich
noch nicht als Thätigkeit, sondern als Zustand, nicht thätiges
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heit. Weil die Anschauung unmittelbares Ergebniß der Seele
ist, darum ist die Wahrnehmung, nachdem sie bei der Empfin-
dung gedient hat, für die Anschauung nicht mehr nöthig; denn
die Anschauung hat eine andere Form als die Empfindung, hat
aber nur den Empfindungsinhalt. Eben darum aber müssen wir
auch die Anschauung noch als zu diesen niedrigern Bildungs-
stufen der Seele gehörend ansehen, welche wir allgemein als die
Stufe der Wahrnehmung bezeichnen können.
Im Gefühle ist die Seele die Substanz, und das Gefühl das
Attribut. Die Substanz ist aber eben bloß ihr Attribut, beide
sind in Einheit. So ist die Seele im Gefühle eins mit dem Ge-
fühl. Weil sie die Substanz ist, so ist sie nicht Subject, wel-
chem ein Object gegenüberstände; sondern das Object inhärirt
ihr als Gefühlsattribut. — In der Empfindung, welche Qualitä-
ten zum Bewußtsein bringt, ist die Qualität Prädicat, und die
Seele Subject: ich sehe Blau. Hier ist zwar keine Inhärenz mehr,
aber doch Beziehung, d. h. hier gegenseitige Abhängigkeit, oder
vielmehr das Verhältniß des Dazugehörens. Die empfundene
Qualität ist nicht mehr die Seele, inhärirt ihr nicht mehr, son-
dern gehört zu ihr. Auch hier also ist noch kein Object, also
die Seele noch nicht Subjectivität, noch nicht Ich. Erst in der
Anschauung befreit sich die Seele derartig von dem sinnlichen
Eindrucke, daß sie ihn ganz außer sich, sich gegenüber stellt,
indem sie nämlich die Qualitäten zusammengenommen einem
Dinge zuschreibt. In der Anschauung spricht die Seele: das
Wahrgenommene ist nicht ich, nicht mein Attribut, noch auch
gehört es zu mir und ist mein Prädicat; sondern es ist Attribut
eines Dinges. Die Seele weiß aber immer noch nichts von sich;
sie weiß sich nicht als anschauende.
Mit diesem Mangel an Selbstbewußtsein steht in enger Ver-
bindung, daß es auf diesem Gebiete der Anschauung, und über-
haupt der Wahrnehmung, nichts Allgemeines, sondern nur Ein-
zelnes giebt. Nur einzelne Qualitäten werden empfunden; nur
einzelne Dinge angeschaut. Es giebt keine Anschauungen von
Arten. Was man zuweilen so nennt, sind wissenschaftliche Ideen
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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 262. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/300>, abgerufen am 22.11.2024.
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