Zeit. Das Thier mag ein Gedächtniß für eine ziemlich lange Vergangenheit haben; aber ob es die verschiedene Länge un- terscheidet? schwerlich. Es erinnert sich des Vergangenen über- haupt; aber es mißt die Zeit nicht. Das Thier soll öfter Lange- weile haben; denn man sieht es gähnen! Als wenn das Gähnen nicht ein Erzeugniß rein physischer Ursachen sein könnte. Ei- nen Unterschied zwischen Arbeit und Müßiggang, Plackerei und Wohlleben empfindet die thierische Seele in ihrem Gemeinge- fühl gewiß. Das Thier spielt und belustigt sich, gerade ebenso in Folge rein physischer Nervenlebendigkeit, wie es auch ruht, wenn es müde geworden ist.
Zwischen Gedächtniß und Erinnerung ist ein Unterschied. Die Erinnerung sucht im Gedächtnisse, wie sie auch zeitliche Anordnung und Eintheilung der im Gedächtnisse aufbewahrten Vergangenheit herstellt; denn Erinnerung ist nicht bloß Aufbe- wahrung des Vergangenen in der Seele, sondern Bewußtsein von der Ausdehnung der abgeflossenen Zeit. Sie ist darum auch noch mehr: Vergegenwärtigung der Vergangenheit, und zwar eines bestimmten, absichtlich jetzt gesuchten und zurückgefor- derten Punktes der Vergangenheit. Diesen Unterschied hat, irre ich nicht, schon Aristoteles gemacht und dem Thiere Gedächt- niß, aber nicht Erinnerung zugeschrieben. Gedächtniß ist nichts als Vertrautheit mit dem gegenwärtigen Eindrucke der Sinne; das ist kein Bewußtsein von Vergangenheit, sondern nur eine modificirte Gegenwart. Und eben so ist Erwartung des nächsten Augenblickes noch kein Bewußtsein einer Zukunft, son- dern bloß Gegenwart, insofern diese überhaupt ist. Denn streng genommen ist sie ja nur der ewig vergangene und ewig kom- mende ausdehnungslose Zeitpunkt. Was man im gewöhnlichen Leben Gegenwart nennt, ist ein wenig Vergangenheit und ein wenig Zukunft; und das hat das Thier. Es hat nur insofern diese beiden, als es Gegenwart hat, d. h. als es lebt, und noth- wendig in der Zeit lebt, und zwar mit Bewußtsein. Es hat Be- wußtsein vom Gegenwärtigen, aber nicht von der Gegenwart; dies nicht, weil nicht von Vergangenheit und Zukunft; und end- lich dies nicht, weil es sich das Vergangene nicht vergegenwär- tigt, weil es wohl Gedächtniß, aber nicht Erinnerung hat.
Das Thier lebt also nur in der Gegenwart, ohne Vergan- genheit und Zukunft, weil seine Seelenstufe die Anschauung ist, d. h. Bewußtsein vom einzelnen, wirklichen und gegen-
Zeit. Das Thier mag ein Gedächtniß für eine ziemlich lange Vergangenheit haben; aber ob es die verschiedene Länge un- terscheidet? schwerlich. Es erinnert sich des Vergangenen über- haupt; aber es mißt die Zeit nicht. Das Thier soll öfter Lange- weile haben; denn man sieht es gähnen! Als wenn das Gähnen nicht ein Erzeugniß rein physischer Ursachen sein könnte. Ei- nen Unterschied zwischen Arbeit und Müßiggang, Plackerei und Wohlleben empfindet die thierische Seele in ihrem Gemeinge- fühl gewiß. Das Thier spielt und belustigt sich, gerade ebenso in Folge rein physischer Nervenlebendigkeit, wie es auch ruht, wenn es müde geworden ist.
Zwischen Gedächtniß und Erinnerung ist ein Unterschied. Die Erinnerung sucht im Gedächtnisse, wie sie auch zeitliche Anordnung und Eintheilung der im Gedächtnisse aufbewahrten Vergangenheit herstellt; denn Erinnerung ist nicht bloß Aufbe- wahrung des Vergangenen in der Seele, sondern Bewußtsein von der Ausdehnung der abgeflossenen Zeit. Sie ist darum auch noch mehr: Vergegenwärtigung der Vergangenheit, und zwar eines bestimmten, absichtlich jetzt gesuchten und zurückgefor- derten Punktes der Vergangenheit. Diesen Unterschied hat, irre ich nicht, schon Aristoteles gemacht und dem Thiere Gedächt- niß, aber nicht Erinnerung zugeschrieben. Gedächtniß ist nichts als Vertrautheit mit dem gegenwärtigen Eindrucke der Sinne; das ist kein Bewußtsein von Vergangenheit, sondern nur eine modificirte Gegenwart. Und eben so ist Erwartung des nächsten Augenblickes noch kein Bewußtsein einer Zukunft, son- dern bloß Gegenwart, insofern diese überhaupt ist. Denn streng genommen ist sie ja nur der ewig vergangene und ewig kom- mende ausdehnungslose Zeitpunkt. Was man im gewöhnlichen Leben Gegenwart nennt, ist ein wenig Vergangenheit und ein wenig Zukunft; und das hat das Thier. Es hat nur insofern diese beiden, als es Gegenwart hat, d. h. als es lebt, und noth- wendig in der Zeit lebt, und zwar mit Bewußtsein. Es hat Be- wußtsein vom Gegenwärtigen, aber nicht von der Gegenwart; dies nicht, weil nicht von Vergangenheit und Zukunft; und end- lich dies nicht, weil es sich das Vergangene nicht vergegenwär- tigt, weil es wohl Gedächtniß, aber nicht Erinnerung hat.
Das Thier lebt also nur in der Gegenwart, ohne Vergan- genheit und Zukunft, weil seine Seelenstufe die Anschauung ist, d. h. Bewußtsein vom einzelnen, wirklichen und gegen-
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Zeit. Das Thier mag ein Gedächtniß für eine ziemlich lange
Vergangenheit haben; aber ob es die verschiedene Länge un-
terscheidet? schwerlich. Es erinnert sich des Vergangenen über-
haupt; aber es mißt die Zeit nicht. Das Thier soll öfter Lange-
weile haben; denn man sieht es gähnen! Als wenn das Gähnen
nicht ein Erzeugniß rein physischer Ursachen sein könnte. Ei-
nen Unterschied zwischen Arbeit und Müßiggang, Plackerei und
Wohlleben empfindet die thierische Seele in ihrem Gemeinge-
fühl gewiß. Das Thier spielt und belustigt sich, gerade ebenso
in Folge rein physischer Nervenlebendigkeit, wie es auch ruht,
wenn es müde geworden ist.
Zwischen Gedächtniß und Erinnerung ist ein Unterschied.
Die Erinnerung sucht im Gedächtnisse, wie sie auch zeitliche
Anordnung und Eintheilung der im Gedächtnisse aufbewahrten
Vergangenheit herstellt; denn Erinnerung ist nicht bloß Aufbe-
wahrung des Vergangenen in der Seele, sondern Bewußtsein
von der Ausdehnung der abgeflossenen Zeit. Sie ist darum auch
noch mehr: Vergegenwärtigung der Vergangenheit, und zwar
eines bestimmten, absichtlich jetzt gesuchten und zurückgefor-
derten Punktes der Vergangenheit. Diesen Unterschied hat, irre
ich nicht, schon Aristoteles gemacht und dem Thiere Gedächt-
niß, aber nicht Erinnerung zugeschrieben. Gedächtniß ist nichts
als Vertrautheit mit dem gegenwärtigen Eindrucke der
Sinne; das ist kein Bewußtsein von Vergangenheit, sondern nur
eine modificirte Gegenwart. Und eben so ist Erwartung des
nächsten Augenblickes noch kein Bewußtsein einer Zukunft, son-
dern bloß Gegenwart, insofern diese überhaupt ist. Denn streng
genommen ist sie ja nur der ewig vergangene und ewig kom-
mende ausdehnungslose Zeitpunkt. Was man im gewöhnlichen
Leben Gegenwart nennt, ist ein wenig Vergangenheit und ein
wenig Zukunft; und das hat das Thier. Es hat nur insofern
diese beiden, als es Gegenwart hat, d. h. als es lebt, und noth-
wendig in der Zeit lebt, und zwar mit Bewußtsein. Es hat Be-
wußtsein vom Gegenwärtigen, aber nicht von der Gegenwart;
dies nicht, weil nicht von Vergangenheit und Zukunft; und end-
lich dies nicht, weil es sich das Vergangene nicht vergegenwär-
tigt, weil es wohl Gedächtniß, aber nicht Erinnerung hat.
Das Thier lebt also nur in der Gegenwart, ohne Vergan-
genheit und Zukunft, weil seine Seelenstufe die Anschauung
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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 266. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/304>, abgerufen am 22.11.2024.
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