Hauch des Geistes fahren über den menschlichen Leib dahin, und er tönt.
b) Hervortreten der Sprache.
Nach allem Vorangegangenen dürfen wir uns nun vorstel- len, daß der Urmensch in größter Lebhaftigkeit alle Wahr- nehmungen, alle Anschauungen, die seine Seele empfing, mit leiblichen Bewegungen, mimischen Stellungen, Gebärden und besonders Tönen, ja sogar articulirten Tönen, begleitete. Diese Reflexbewegungen bedeuten nun thatsächlich schon die Seelen- erregungen, deren Reflex sie sind. Was nun noch zur Sprache fehlt, ist freilich nicht unbedeutend, ist vielmehr das Wichtigste, nämlich das Bewußtsein dieser Bedeutung, die Verwendung der Aeußerung. Die bewußte Verbindung erst der reflectirten Körperbewegung mit der Seelenerregung giebt den Anfang der Sprache. Die Seelenerregung aber, Gefühl, Empfindung, An- schauung, ist schon Bewußtsein; also ist das Bewußtsein vom Bewußtsein Anfang und Quell der Sprache, oder mit der Sprache wird die Seele Bewußtsein des Bewußten, also Selbstbewußtsein; die Seele wird Geist. Dieser Uebergang von Seele in Geist ist also das Erste, was uns hier beschäftigt.
§. 92. Anschauung der Anschauung.
Wir denken uns hier den Menschen als anschauend; aber wir dürfen noch nicht sagen, er besitze Anschauungen. Denn er hat wohl Gedächtniß, wie auch das Thier, aber noch keine Erinnerung, keine erinnerte Anschauung. Unser Mensch, wie wir ihn hier als Fiction hinstellen, lebt, wie das Thier, im schnel- len Wechsel gegenwärtiger, sinnlicher Anschauungen. Jede An- schauung ist begleitet von einer Reflexbewegung, deren Zweck Ableitung des Druckes von der Seele, Erleichterung ist. Hier- mit ist beim Thiere die Sache aus; beim Menschen noch nicht, sondern sie schreitet fort. Die menschliche Seele entledigt sich ebenfalls des empfangenen Eindruckes; aber sie hat einen dop- pelten Vortheil gegen die thierische. Bei der thierischen Em- pfindung ist, wie wir oben gesehen haben, die leibliche Erre- gung überwältigend für die Seele und darum die Gegenwirkung der Seele schwach. Beim Menschen ist umgekehrt die leibliche Erregung viel schwächer, die Seelenreaction viel stärker. Sollte dies der Grund sein, warum der Mensch ein längeres Leben
Hauch des Geistes fahren über den menschlichen Leib dahin, und er tönt.
b) Hervortreten der Sprache.
Nach allem Vorangegangenen dürfen wir uns nun vorstel- len, daß der Urmensch in größter Lebhaftigkeit alle Wahr- nehmungen, alle Anschauungen, die seine Seele empfing, mit leiblichen Bewegungen, mimischen Stellungen, Gebärden und besonders Tönen, ja sogar articulirten Tönen, begleitete. Diese Reflexbewegungen bedeuten nun thatsächlich schon die Seelen- erregungen, deren Reflex sie sind. Was nun noch zur Sprache fehlt, ist freilich nicht unbedeutend, ist vielmehr das Wichtigste, nämlich das Bewußtsein dieser Bedeutung, die Verwendung der Aeußerung. Die bewußte Verbindung erst der reflectirten Körperbewegung mit der Seelenerregung giebt den Anfang der Sprache. Die Seelenerregung aber, Gefühl, Empfindung, An- schauung, ist schon Bewußtsein; also ist das Bewußtsein vom Bewußtsein Anfang und Quell der Sprache, oder mit der Sprache wird die Seele Bewußtsein des Bewußten, also Selbstbewußtsein; die Seele wird Geist. Dieser Uebergang von Seele in Geist ist also das Erste, was uns hier beschäftigt.
§. 92. Anschauung der Anschauung.
Wir denken uns hier den Menschen als anschauend; aber wir dürfen noch nicht sagen, er besitze Anschauungen. Denn er hat wohl Gedächtniß, wie auch das Thier, aber noch keine Erinnerung, keine erinnerte Anschauung. Unser Mensch, wie wir ihn hier als Fiction hinstellen, lebt, wie das Thier, im schnel- len Wechsel gegenwärtiger, sinnlicher Anschauungen. Jede An- schauung ist begleitet von einer Reflexbewegung, deren Zweck Ableitung des Druckes von der Seele, Erleichterung ist. Hier- mit ist beim Thiere die Sache aus; beim Menschen noch nicht, sondern sie schreitet fort. Die menschliche Seele entledigt sich ebenfalls des empfangenen Eindruckes; aber sie hat einen dop- pelten Vortheil gegen die thierische. Bei der thierischen Em- pfindung ist, wie wir oben gesehen haben, die leibliche Erre- gung überwältigend für die Seele und darum die Gegenwirkung der Seele schwach. Beim Menschen ist umgekehrt die leibliche Erregung viel schwächer, die Seelenreaction viel stärker. Sollte dies der Grund sein, warum der Mensch ein längeres Leben
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Hauch des Geistes fahren über den menschlichen Leib dahin,
und er tönt.
b) Hervortreten der Sprache.
Nach allem Vorangegangenen dürfen wir uns nun vorstel-
len, daß der Urmensch in größter Lebhaftigkeit alle Wahr-
nehmungen, alle Anschauungen, die seine Seele empfing, mit
leiblichen Bewegungen, mimischen Stellungen, Gebärden und
besonders Tönen, ja sogar articulirten Tönen, begleitete. Diese
Reflexbewegungen bedeuten nun thatsächlich schon die Seelen-
erregungen, deren Reflex sie sind. Was nun noch zur Sprache
fehlt, ist freilich nicht unbedeutend, ist vielmehr das Wichtigste,
nämlich das Bewußtsein dieser Bedeutung, die Verwendung
der Aeußerung. Die bewußte Verbindung erst der reflectirten
Körperbewegung mit der Seelenerregung giebt den Anfang der
Sprache. Die Seelenerregung aber, Gefühl, Empfindung, An-
schauung, ist schon Bewußtsein; also ist das Bewußtsein
vom Bewußtsein Anfang und Quell der Sprache, oder mit
der Sprache wird die Seele Bewußtsein des Bewußten, also
Selbstbewußtsein; die Seele wird Geist. Dieser Uebergang von
Seele in Geist ist also das Erste, was uns hier beschäftigt.
§. 92. Anschauung der Anschauung.
Wir denken uns hier den Menschen als anschauend; aber
wir dürfen noch nicht sagen, er besitze Anschauungen. Denn
er hat wohl Gedächtniß, wie auch das Thier, aber noch keine
Erinnerung, keine erinnerte Anschauung. Unser Mensch, wie
wir ihn hier als Fiction hinstellen, lebt, wie das Thier, im schnel-
len Wechsel gegenwärtiger, sinnlicher Anschauungen. Jede An-
schauung ist begleitet von einer Reflexbewegung, deren Zweck
Ableitung des Druckes von der Seele, Erleichterung ist. Hier-
mit ist beim Thiere die Sache aus; beim Menschen noch nicht,
sondern sie schreitet fort. Die menschliche Seele entledigt sich
ebenfalls des empfangenen Eindruckes; aber sie hat einen dop-
pelten Vortheil gegen die thierische. Bei der thierischen Em-
pfindung ist, wie wir oben gesehen haben, die leibliche Erre-
gung überwältigend für die Seele und darum die Gegenwirkung
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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 295. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/333>, abgerufen am 22.11.2024.
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