Wenn ein unangenehmes Gefühl in einem Schmerzenslaute ausbricht, ein angenehmes in einem Freudenrufe, so ist hier noch nicht eigentlich Sprache gegeben. Denn Gefühl und Laut sind zwar mit einander verbunden, und jenes stellt sich in die- sem dar; es kann die Absicht, der Wunsch hinzutreten, der Andere möge das Gefühl erkennen, und der Andere wird es auch aus den Tönen erkennen. Dies wäre allenfalls anzusehen als die Sprache des Gefühls, die thierische Sprache. Was hier aber fehlt ist die innere Sprachform, die Anschauung des Ge- fühls. Die innere Sprachform enthält allemal ein Verhältniß zwischen Laut und Bedeutung; hier aber existirt ein solches Verhältniß noch nicht, sondern Laut und Gefühl sind unmittel- bar identisch. Der Laut ist hier nicht zum Zeichen eines In- nern gesetzt; hier ist bloß Aeußeres; und der Laut, das Aech- zen, Stöhnen z. B., ist nicht Zeichen des Schmerzes, sondern Wirkung desselben, ist der Schmerz selber. Die Zuckungen eines in Krämpfen sich wälzenden Unglücklichen werden wir nicht für das Zeichen der Krämpfe halten; sondern die Zuckun- gen sind eben die Krämpfe. Das glühende Antlitz, das fun- kelnde Auge, die geschwollene Stirnader, das Schnauben der Nase, sind nicht Zeichen des Zorns, sondern sind eben die Wirk- lichkeit des Zorns. Lachen, Seufzen, Schluchzen sind nichts anderes, als solche Wirklichkeiten der Gefühle. Sie sind nicht Zeichen, sondern, wie wir es wohl am genauesten benennen, Schein eines Innern, das Wort Schein im philosophischen Sinne genommen als Offenbarung innerer Realität. Der Mimiker stellt die Gefühle nicht dar, indem er die Zeichen derselben uns vor- hält, sondern indem er den Schein derselben annimmt und ge- währt. Wir stehen hier bei einem rein pathologischen Verhält- nisse, einem physiologischen Processe.
Wenn nun aber alle diese Gefühlsausbrüche, im weitesten Sinne des Wortes, noch nicht wesentlich zur Sprache gehören, so stehen sie ihr doch nahe, zumal wenn man in den Gefühlen Unterschiede macht. Sie entspringen theils mehr aus dem Kör- per, theils mehr aus der Seele. Wenn auf einen körperlichen Schlag oder Stoß, welcher Schmerz erregt, ein Schrei erfolgt; so liegt hier die Vermittlung zwischen Schlag und Schrei rein
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α. Pathognomische Stufe.
§. 97. Reflex der Gefühle — Interjectionen.
Wenn ein unangenehmes Gefühl in einem Schmerzenslaute ausbricht, ein angenehmes in einem Freudenrufe, so ist hier noch nicht eigentlich Sprache gegeben. Denn Gefühl und Laut sind zwar mit einander verbunden, und jenes stellt sich in die- sem dar; es kann die Absicht, der Wunsch hinzutreten, der Andere möge das Gefühl erkennen, und der Andere wird es auch aus den Tönen erkennen. Dies wäre allenfalls anzusehen als die Sprache des Gefühls, die thierische Sprache. Was hier aber fehlt ist die innere Sprachform, die Anschauung des Ge- fühls. Die innere Sprachform enthält allemal ein Verhältniß zwischen Laut und Bedeutung; hier aber existirt ein solches Verhältniß noch nicht, sondern Laut und Gefühl sind unmittel- bar identisch. Der Laut ist hier nicht zum Zeichen eines In- nern gesetzt; hier ist bloß Aeußeres; und der Laut, das Aech- zen, Stöhnen z. B., ist nicht Zeichen des Schmerzes, sondern Wirkung desselben, ist der Schmerz selber. Die Zuckungen eines in Krämpfen sich wälzenden Unglücklichen werden wir nicht für das Zeichen der Krämpfe halten; sondern die Zuckun- gen sind eben die Krämpfe. Das glühende Antlitz, das fun- kelnde Auge, die geschwollene Stirnader, das Schnauben der Nase, sind nicht Zeichen des Zorns, sondern sind eben die Wirk- lichkeit des Zorns. Lachen, Seufzen, Schluchzen sind nichts anderes, als solche Wirklichkeiten der Gefühle. Sie sind nicht Zeichen, sondern, wie wir es wohl am genauesten benennen, Schein eines Innern, das Wort Schein im philosophischen Sinne genommen als Offenbarung innerer Realität. Der Mimiker stellt die Gefühle nicht dar, indem er die Zeichen derselben uns vor- hält, sondern indem er den Schein derselben annimmt und ge- währt. Wir stehen hier bei einem rein pathologischen Verhält- nisse, einem physiologischen Processe.
Wenn nun aber alle diese Gefühlsausbrüche, im weitesten Sinne des Wortes, noch nicht wesentlich zur Sprache gehören, so stehen sie ihr doch nahe, zumal wenn man in den Gefühlen Unterschiede macht. Sie entspringen theils mehr aus dem Kör- per, theils mehr aus der Seele. Wenn auf einen körperlichen Schlag oder Stoß, welcher Schmerz erregt, ein Schrei erfolgt; so liegt hier die Vermittlung zwischen Schlag und Schrei rein
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α. Pathognomische Stufe.
§. 97. Reflex der Gefühle — Interjectionen.
Wenn ein unangenehmes Gefühl in einem Schmerzenslaute
ausbricht, ein angenehmes in einem Freudenrufe, so ist hier
noch nicht eigentlich Sprache gegeben. Denn Gefühl und Laut
sind zwar mit einander verbunden, und jenes stellt sich in die-
sem dar; es kann die Absicht, der Wunsch hinzutreten, der
Andere möge das Gefühl erkennen, und der Andere wird es
auch aus den Tönen erkennen. Dies wäre allenfalls anzusehen
als die Sprache des Gefühls, die thierische Sprache. Was hier
aber fehlt ist die innere Sprachform, die Anschauung des Ge-
fühls. Die innere Sprachform enthält allemal ein Verhältniß
zwischen Laut und Bedeutung; hier aber existirt ein solches
Verhältniß noch nicht, sondern Laut und Gefühl sind unmittel-
bar identisch. Der Laut ist hier nicht zum Zeichen eines In-
nern gesetzt; hier ist bloß Aeußeres; und der Laut, das Aech-
zen, Stöhnen z. B., ist nicht Zeichen des Schmerzes, sondern
Wirkung desselben, ist der Schmerz selber. Die Zuckungen
eines in Krämpfen sich wälzenden Unglücklichen werden wir
nicht für das Zeichen der Krämpfe halten; sondern die Zuckun-
gen sind eben die Krämpfe. Das glühende Antlitz, das fun-
kelnde Auge, die geschwollene Stirnader, das Schnauben der
Nase, sind nicht Zeichen des Zorns, sondern sind eben die Wirk-
lichkeit des Zorns. Lachen, Seufzen, Schluchzen sind nichts
anderes, als solche Wirklichkeiten der Gefühle. Sie sind nicht
Zeichen, sondern, wie wir es wohl am genauesten benennen,
Schein eines Innern, das Wort Schein im philosophischen Sinne
genommen als Offenbarung innerer Realität. Der Mimiker stellt
die Gefühle nicht dar, indem er die Zeichen derselben uns vor-
hält, sondern indem er den Schein derselben annimmt und ge-
währt. Wir stehen hier bei einem rein pathologischen Verhält-
nisse, einem physiologischen Processe.
Wenn nun aber alle diese Gefühlsausbrüche, im weitesten
Sinne des Wortes, noch nicht wesentlich zur Sprache gehören,
so stehen sie ihr doch nahe, zumal wenn man in den Gefühlen
Unterschiede macht. Sie entspringen theils mehr aus dem Kör-
per, theils mehr aus der Seele. Wenn auf einen körperlichen
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so liegt hier die Vermittlung zwischen Schlag und Schrei rein
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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 307. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/345>, abgerufen am 21.11.2024.
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