dem Worte an sich nichts mehr übrig als der Laut, wie dies in geschichtlicher Zeit Statt findet, wo die Etymologie aus dem Bewußtsein verloren ist: so ist die Vorstellung nichts weiter, als die leere Beziehung des Bewußtseins auf die Anschauung oder das wirkliche Ding, und erwartet erst im Prädicate einen Inhalt. Wenn man sagt: der Körper ist theilbar, so wird bei Körper gar nichts gedacht; das Wort Körper bewirkt aber eine Beziehung des Bewußtseins auf die Anschauung des wirklichen Körpers, eine Beziehung jedoch, die durchaus leer ist (weil die Etymologie des Wortes Körper vergessen ist), und die erst durch das Prädicat theilbar einen Inhalt erhält. Wenn sich nun diese Beziehungen vielfach wiederholen und immer verschieden aus- gefüllt werden; wenn, nach unserem obigen Gleichnisse, von der inhaltslosen Spitze des Kegels der Anschauung nach allen Punk- ten der Basis Linien gezogen werden und durch diese Linien alle Punkte nach ihrem Zusammenhange mit einander und mit dem Ganzen ins Bewußtsein gelangt sind: so erhalten wir den Begriff, der eine große Fülle von Urtheilen in sich schließt.
Wie schwerfällig würde unser Denken sein, wenn wir da- bei immer die volle Anschauung oder gar den Begriff, so weit wir ihn gebildet haben, gegenwärtig im Bewußtsein haben müß- ten, um daran neue Erkenntnisse zu knüpfen! Ja dies wäre bei der Natur unseres Bewußtseins, welches nur sehr wenige ein- fache Vorstellungen zugleich klar denken kann, rein unmöglich. Das Wort kommt also hier dem Bewußtsein zu Hülfe. Denn, indem es, ohne ihm etwas zu denken zu geben, dennoch den ganzen Complex der Empfindungen, die in einer Anschauung liegen, festhält, kann das Bewußtsein in völliger Freiheit sein Auge ausschließlich auf diejenigen Punkte heften, um deren Er- kenntniß es ihm gerade jetzt zu thun ist; und kann, da auch diese Erkenntnisse an Wörter gebunden sind, mit denselben man- cherlei Operationen vornehmen, ohne sie sich lebendig zu ver- gegenwärtigen, indem es mit dem inhaltsleeren Worte als dem vorgestellten Aequivalent des Erkannten operirt. Wie sollte man etwas Allgemeines, etwa von Pflanzen und Thieren, auf- fassen können, wenn man fortwährend die Anschauungen aller Einzelheiten gegenwärtig haben müßte! Die Vorstellung, auf ihrer niedrigsten Stufe der Allgemeinheit, bedeutet eine Art. So vermittelt sie die höhere Allgemeinheit des Begriffs mit der An- schauung, die nur Einzelnes erfaßt.
dem Worte an sich nichts mehr übrig als der Laut, wie dies in geschichtlicher Zeit Statt findet, wo die Etymologie aus dem Bewußtsein verloren ist: so ist die Vorstellung nichts weiter, als die leere Beziehung des Bewußtseins auf die Anschauung oder das wirkliche Ding, und erwartet erst im Prädicate einen Inhalt. Wenn man sagt: der Körper ist theilbar, so wird bei Körper gar nichts gedacht; das Wort Körper bewirkt aber eine Beziehung des Bewußtseins auf die Anschauung des wirklichen Körpers, eine Beziehung jedoch, die durchaus leer ist (weil die Etymologie des Wortes Körper vergessen ist), und die erst durch das Prädicat theilbar einen Inhalt erhält. Wenn sich nun diese Beziehungen vielfach wiederholen und immer verschieden aus- gefüllt werden; wenn, nach unserem obigen Gleichnisse, von der inhaltslosen Spitze des Kegels der Anschauung nach allen Punk- ten der Basis Linien gezogen werden und durch diese Linien alle Punkte nach ihrem Zusammenhange mit einander und mit dem Ganzen ins Bewußtsein gelangt sind: so erhalten wir den Begriff, der eine große Fülle von Urtheilen in sich schließt.
Wie schwerfällig würde unser Denken sein, wenn wir da- bei immer die volle Anschauung oder gar den Begriff, so weit wir ihn gebildet haben, gegenwärtig im Bewußtsein haben müß- ten, um daran neue Erkenntnisse zu knüpfen! Ja dies wäre bei der Natur unseres Bewußtseins, welches nur sehr wenige ein- fache Vorstellungen zugleich klar denken kann, rein unmöglich. Das Wort kommt also hier dem Bewußtsein zu Hülfe. Denn, indem es, ohne ihm etwas zu denken zu geben, dennoch den ganzen Complex der Empfindungen, die in einer Anschauung liegen, festhält, kann das Bewußtsein in völliger Freiheit sein Auge ausschließlich auf diejenigen Punkte heften, um deren Er- kenntniß es ihm gerade jetzt zu thun ist; und kann, da auch diese Erkenntnisse an Wörter gebunden sind, mit denselben man- cherlei Operationen vornehmen, ohne sie sich lebendig zu ver- gegenwärtigen, indem es mit dem inhaltsleeren Worte als dem vorgestellten Aequivalent des Erkannten operirt. Wie sollte man etwas Allgemeines, etwa von Pflanzen und Thieren, auf- fassen können, wenn man fortwährend die Anschauungen aller Einzelheiten gegenwärtig haben müßte! Die Vorstellung, auf ihrer niedrigsten Stufe der Allgemeinheit, bedeutet eine Art. So vermittelt sie die höhere Allgemeinheit des Begriffs mit der An- schauung, die nur Einzelnes erfaßt.
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dem Worte an sich nichts mehr übrig als der Laut, wie dies
in geschichtlicher Zeit Statt findet, wo die Etymologie aus dem
Bewußtsein verloren ist: so ist die Vorstellung nichts weiter,
als die leere Beziehung des Bewußtseins auf die Anschauung
oder das wirkliche Ding, und erwartet erst im Prädicate einen
Inhalt. Wenn man sagt: der Körper ist theilbar, so wird bei
Körper gar nichts gedacht; das Wort Körper bewirkt aber eine
Beziehung des Bewußtseins auf die Anschauung des wirklichen
Körpers, eine Beziehung jedoch, die durchaus leer ist (weil die
Etymologie des Wortes Körper vergessen ist), und die erst durch
das Prädicat theilbar einen Inhalt erhält. Wenn sich nun diese
Beziehungen vielfach wiederholen und immer verschieden aus-
gefüllt werden; wenn, nach unserem obigen Gleichnisse, von der
inhaltslosen Spitze des Kegels der Anschauung nach allen Punk-
ten der Basis Linien gezogen werden und durch diese Linien
alle Punkte nach ihrem Zusammenhange mit einander und mit
dem Ganzen ins Bewußtsein gelangt sind: so erhalten wir den
Begriff, der eine große Fülle von Urtheilen in sich schließt.
Wie schwerfällig würde unser Denken sein, wenn wir da-
bei immer die volle Anschauung oder gar den Begriff, so weit
wir ihn gebildet haben, gegenwärtig im Bewußtsein haben müß-
ten, um daran neue Erkenntnisse zu knüpfen! Ja dies wäre bei
der Natur unseres Bewußtseins, welches nur sehr wenige ein-
fache Vorstellungen zugleich klar denken kann, rein unmöglich.
Das Wort kommt also hier dem Bewußtsein zu Hülfe. Denn,
indem es, ohne ihm etwas zu denken zu geben, dennoch den
ganzen Complex der Empfindungen, die in einer Anschauung
liegen, festhält, kann das Bewußtsein in völliger Freiheit sein
Auge ausschließlich auf diejenigen Punkte heften, um deren Er-
kenntniß es ihm gerade jetzt zu thun ist; und kann, da auch
diese Erkenntnisse an Wörter gebunden sind, mit denselben man-
cherlei Operationen vornehmen, ohne sie sich lebendig zu ver-
gegenwärtigen, indem es mit dem inhaltsleeren Worte als dem
vorgestellten Aequivalent des Erkannten operirt. Wie sollte
man etwas Allgemeines, etwa von Pflanzen und Thieren, auf-
fassen können, wenn man fortwährend die Anschauungen aller
Einzelheiten gegenwärtig haben müßte! Die Vorstellung, auf
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vermittelt sie die höhere Allgemeinheit des Begriffs mit der An-
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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 331. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/369>, abgerufen am 18.12.2024.
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