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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

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Consonanten nämlich stemmt man die jedesmal nöthigen Organe
gegen einander und verschließt dadurch die Mundhöhle. In
Folge dessen wird die Luft innerhalb der Mundhöhle, indem im-
mer mehr aus der Brust zuströmt und doch keine aus dem Munde
entweichen kann, zusammengepreßt, verdichtet; durch das plötz-
liche Oeffnen der Mundhöhle aber, indem die Stemmung der
Organe aufgehoben wird, verdünnt sich die Luft plötzlich. Hier-
durch wird die Luft erschüttert und es entsteht ein Geräusch,
welches wir als Consonanten wahrnehmen. Während also die
Stimme das Tönen der Stimmbänder ist: so sind diese Mund-
geräusche Töne der erschütterten Luft. Merkwürdig nun ist,
daß die Seele nicht bloß das Geräusch vernimmt, sondern auch
merkt, ob der Mundverschluß, der ihn verursachte, durch die
Lippen, oder durch die Zunge im Hintergrunde, oder durch die
Zunge im Vordergrunde des Mundes verursacht war. Denn je
nach der veränderten Stelle des Mundverschlusses nimmt sie das
Geräusch als p oder t oder k wahr. Woran merkt nun die
Seele die Weise des Mundverschlusses, die so mannigfach ab-
geändert werden kann, daß wir dreißig und mehr Consonanten
unterscheiden, und außerdem noch die Vocale? Offenbar an der
Verschiedenheit der Form der Luftwellen. Wenn die Luft im
Munde durch die Lippen gehemmt und dann ausgestoßen wird,
so bilden sich anders gestaltete Luftwellen, als wenn sie durch
die an den Gaumen gedrückte Zunge eingeschlossen war.

Da diese Mundgeräusche ganz anderer Natur sind, als die
Stimme, so können sie auch nicht zugleich mit dieser Statt ha-
ben; denn die Stimme erfordert freies Durchströmen des Athems
durch den Mundcanal, während die consonantische Articulation
denselben verschließt. Aber wohl kann sich die Stimme den
Consonanten vorn und hinten anschließen; denn sie kann vor
der Bildung und nach der Aufhebung des Verschlusses tönen.
So liefert sie den Vocal. Abgeändert wird der Vocal nicht
durch den Mundverschluß, aber wohl durch die Form des Mund-
canals, den wir bald mehr kurz und weit, bald mehr lang und
schmal gestalten können.

Die Articulation ist also die besondere Stellung der Mund-
höhle, bei welcher das Geräusch und die Stimme erzeugt wird:
durch diese Stellung wird der Weg, den die ausströmende Luft
nimmt, abgeändert und damit zugleich die Wellenbewegung der
erschütterten Luft. Es scheint sich in der gemeinen Ansicht

Consonanten nämlich stemmt man die jedesmal nöthigen Organe
gegen einander und verschließt dadurch die Mundhöhle. In
Folge dessen wird die Luft innerhalb der Mundhöhle, indem im-
mer mehr aus der Brust zuströmt und doch keine aus dem Munde
entweichen kann, zusammengepreßt, verdichtet; durch das plötz-
liche Oeffnen der Mundhöhle aber, indem die Stemmung der
Organe aufgehoben wird, verdünnt sich die Luft plötzlich. Hier-
durch wird die Luft erschüttert und es entsteht ein Geräusch,
welches wir als Consonanten wahrnehmen. Während also die
Stimme das Tönen der Stimmbänder ist: so sind diese Mund-
geräusche Töne der erschütterten Luft. Merkwürdig nun ist,
daß die Seele nicht bloß das Geräusch vernimmt, sondern auch
merkt, ob der Mundverschluß, der ihn verursachte, durch die
Lippen, oder durch die Zunge im Hintergrunde, oder durch die
Zunge im Vordergrunde des Mundes verursacht war. Denn je
nach der veränderten Stelle des Mundverschlusses nimmt sie das
Geräusch als p oder t oder k wahr. Woran merkt nun die
Seele die Weise des Mundverschlusses, die so mannigfach ab-
geändert werden kann, daß wir dreißig und mehr Consonanten
unterscheiden, und außerdem noch die Vocale? Offenbar an der
Verschiedenheit der Form der Luftwellen. Wenn die Luft im
Munde durch die Lippen gehemmt und dann ausgestoßen wird,
so bilden sich anders gestaltete Luftwellen, als wenn sie durch
die an den Gaumen gedrückte Zunge eingeschlossen war.

Da diese Mundgeräusche ganz anderer Natur sind, als die
Stimme, so können sie auch nicht zugleich mit dieser Statt ha-
ben; denn die Stimme erfordert freies Durchströmen des Athems
durch den Mundcanal, während die consonantische Articulation
denselben verschließt. Aber wohl kann sich die Stimme den
Consonanten vorn und hinten anschließen; denn sie kann vor
der Bildung und nach der Aufhebung des Verschlusses tönen.
So liefert sie den Vocal. Abgeändert wird der Vocal nicht
durch den Mundverschluß, aber wohl durch die Form des Mund-
canals, den wir bald mehr kurz und weit, bald mehr lang und
schmal gestalten können.

Die Articulation ist also die besondere Stellung der Mund-
höhle, bei welcher das Geräusch und die Stimme erzeugt wird:
durch diese Stellung wird der Weg, den die ausströmende Luft
nimmt, abgeändert und damit zugleich die Wellenbewegung der
erschütterten Luft. Es scheint sich in der gemeinen Ansicht

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[350/0388] Consonanten nämlich stemmt man die jedesmal nöthigen Organe gegen einander und verschließt dadurch die Mundhöhle. In Folge dessen wird die Luft innerhalb der Mundhöhle, indem im- mer mehr aus der Brust zuströmt und doch keine aus dem Munde entweichen kann, zusammengepreßt, verdichtet; durch das plötz- liche Oeffnen der Mundhöhle aber, indem die Stemmung der Organe aufgehoben wird, verdünnt sich die Luft plötzlich. Hier- durch wird die Luft erschüttert und es entsteht ein Geräusch, welches wir als Consonanten wahrnehmen. Während also die Stimme das Tönen der Stimmbänder ist: so sind diese Mund- geräusche Töne der erschütterten Luft. Merkwürdig nun ist, daß die Seele nicht bloß das Geräusch vernimmt, sondern auch merkt, ob der Mundverschluß, der ihn verursachte, durch die Lippen, oder durch die Zunge im Hintergrunde, oder durch die Zunge im Vordergrunde des Mundes verursacht war. Denn je nach der veränderten Stelle des Mundverschlusses nimmt sie das Geräusch als p oder t oder k wahr. Woran merkt nun die Seele die Weise des Mundverschlusses, die so mannigfach ab- geändert werden kann, daß wir dreißig und mehr Consonanten unterscheiden, und außerdem noch die Vocale? Offenbar an der Verschiedenheit der Form der Luftwellen. Wenn die Luft im Munde durch die Lippen gehemmt und dann ausgestoßen wird, so bilden sich anders gestaltete Luftwellen, als wenn sie durch die an den Gaumen gedrückte Zunge eingeschlossen war. Da diese Mundgeräusche ganz anderer Natur sind, als die Stimme, so können sie auch nicht zugleich mit dieser Statt ha- ben; denn die Stimme erfordert freies Durchströmen des Athems durch den Mundcanal, während die consonantische Articulation denselben verschließt. Aber wohl kann sich die Stimme den Consonanten vorn und hinten anschließen; denn sie kann vor der Bildung und nach der Aufhebung des Verschlusses tönen. So liefert sie den Vocal. Abgeändert wird der Vocal nicht durch den Mundverschluß, aber wohl durch die Form des Mund- canals, den wir bald mehr kurz und weit, bald mehr lang und schmal gestalten können. Die Articulation ist also die besondere Stellung der Mund- höhle, bei welcher das Geräusch und die Stimme erzeugt wird: durch diese Stellung wird der Weg, den die ausströmende Luft nimmt, abgeändert und damit zugleich die Wellenbewegung der erschütterten Luft. Es scheint sich in der gemeinen Ansicht

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Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 350. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/388>, abgerufen am 20.05.2024.