nämlich aus dem geistigen Leben der Menschheit hervor. Der Künstler, der Denker ist das Erzeugniß seiner Vergangenheit; und auch seine einzelnen Werke, ihre Fehler und Tugenden, sind nicht willkürlich. Sophokles konnte nicht wie Shakespeare dichten wollen, und Aristoteles kein System schaffen wollen wie Hegel. "Das Bedürfniß und die Erkenntniß" ist auch orga- nisch entstehend und vergehend. Soll hier also das Kunstwerk von dem organisch Natürlichen unterschieden werden, so ge- schieht das nur durch völlig unvorbereitete, und, wie wir sehen, unberechtigte Bestimmungen, die eben darum auch von Becker gar nicht klar und bestimmt eingeführt werden können. Der ein- zige Satz aus der oben betrachteten Darlegung der Merkmale des Organischen, welcher die hier gemachte Scheidung begrün- den könnte, nämlich: "das organische Ding wird nicht durch eine Zusammensetzung der Organe von außen, sondern durch eine Entwickelung von innen," ist nicht nur ebenfalls unbegreif- lich, da man gar nicht weiß, wo im lebenden, organischen All ein Außen sein soll; sondern auch, selbst diesen Satz zugestan- den, so kann man immer die Maschine noch nicht vom Orga- nismus unterscheiden. Denn einerseits wird auch die Maschine durch die Entwickelung aus dem Innern des Denkens: sie ist von einem Gedanken geschaffen und beseelt; jedes Rad nach seiner Form und seinen Beziehungen folgt aus dem Begriffe, aus der Function, welche in der Maschine in die Erscheinung tritt, sich verleiblicht, in Gegensätzen besondert; alles Besondere in ihr folgt also aus der Einheit, und also hat der Theil nur im Ganzen Bedeutung, das Ganze nur durch seine Theile; und die Theile sind alle in gegenseitiger Uebereinstimmung, mit einem gleichartigen Typus aus dem Innern des Gedankens heraus ent- worfen. Andererseits aber mag man noch so sehr von inne- rer Nothwendigkeit des Organischen sprechen, von seiner Ent- wickelung von innen, es entwickelt und erhält sich doch nur durch Aufnahme geeigneter Stoffe von außen; schneidet ihm nur Luft und Nahrung und Licht ab, und lasset es sich von innen entwickeln!
Indessen müssen wir es uns doch gefallen lassen, wenn Becker, weil er nun einmal will, den geistigen oder künstli- chen Organismus von der natürlichen Maschine -- nach Obigem hat uns Becker diese Ausdrucksweise nicht untersagt -- unter-
nämlich aus dem geistigen Leben der Menschheit hervor. Der Künstler, der Denker ist das Erzeugniß seiner Vergangenheit; und auch seine einzelnen Werke, ihre Fehler und Tugenden, sind nicht willkürlich. Sophokles konnte nicht wie Shakespeare dichten wollen, und Aristoteles kein System schaffen wollen wie Hegel. „Das Bedürfniß und die Erkenntniß” ist auch orga- nisch entstehend und vergehend. Soll hier also das Kunstwerk von dem organisch Natürlichen unterschieden werden, so ge- schieht das nur durch völlig unvorbereitete, und, wie wir sehen, unberechtigte Bestimmungen, die eben darum auch von Becker gar nicht klar und bestimmt eingeführt werden können. Der ein- zige Satz aus der oben betrachteten Darlegung der Merkmale des Organischen, welcher die hier gemachte Scheidung begrün- den könnte, nämlich: „das organische Ding wird nicht durch eine Zusammensetzung der Organe von außen, sondern durch eine Entwickelung von innen,” ist nicht nur ebenfalls unbegreif- lich, da man gar nicht weiß, wo im lebenden, organischen All ein Außen sein soll; sondern auch, selbst diesen Satz zugestan- den, so kann man immer die Maschine noch nicht vom Orga- nismus unterscheiden. Denn einerseits wird auch die Maschine durch die Entwickelung aus dem Innern des Denkens: sie ist von einem Gedanken geschaffen und beseelt; jedes Rad nach seiner Form und seinen Beziehungen folgt aus dem Begriffe, aus der Function, welche in der Maschine in die Erscheinung tritt, sich verleiblicht, in Gegensätzen besondert; alles Besondere in ihr folgt also aus der Einheit, und also hat der Theil nur im Ganzen Bedeutung, das Ganze nur durch seine Theile; und die Theile sind alle in gegenseitiger Uebereinstimmung, mit einem gleichartigen Typus aus dem Innern des Gedankens heraus ent- worfen. Andererseits aber mag man noch so sehr von inne- rer Nothwendigkeit des Organischen sprechen, von seiner Ent- wickelung von innen, es entwickelt und erhält sich doch nur durch Aufnahme geeigneter Stoffe von außen; schneidet ihm nur Luft und Nahrung und Licht ab, und lasset es sich von innen entwickeln!
Indessen müssen wir es uns doch gefallen lassen, wenn Becker, weil er nun einmal will, den geistigen oder künstli- chen Organismus von der natürlichen Maschine — nach Obigem hat uns Becker diese Ausdrucksweise nicht untersagt — unter-
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[6/0044]
nämlich aus dem geistigen Leben der Menschheit hervor. Der
Künstler, der Denker ist das Erzeugniß seiner Vergangenheit;
und auch seine einzelnen Werke, ihre Fehler und Tugenden,
sind nicht willkürlich. Sophokles konnte nicht wie Shakespeare
dichten wollen, und Aristoteles kein System schaffen wollen wie
Hegel. „Das Bedürfniß und die Erkenntniß” ist auch orga-
nisch entstehend und vergehend. Soll hier also das Kunstwerk
von dem organisch Natürlichen unterschieden werden, so ge-
schieht das nur durch völlig unvorbereitete, und, wie wir sehen,
unberechtigte Bestimmungen, die eben darum auch von Becker
gar nicht klar und bestimmt eingeführt werden können. Der ein-
zige Satz aus der oben betrachteten Darlegung der Merkmale
des Organischen, welcher die hier gemachte Scheidung begrün-
den könnte, nämlich: „das organische Ding wird nicht durch
eine Zusammensetzung der Organe von außen, sondern durch
eine Entwickelung von innen,” ist nicht nur ebenfalls unbegreif-
lich, da man gar nicht weiß, wo im lebenden, organischen All
ein Außen sein soll; sondern auch, selbst diesen Satz zugestan-
den, so kann man immer die Maschine noch nicht vom Orga-
nismus unterscheiden. Denn einerseits wird auch die Maschine
durch die Entwickelung aus dem Innern des Denkens: sie ist
von einem Gedanken geschaffen und beseelt; jedes Rad nach
seiner Form und seinen Beziehungen folgt aus dem Begriffe, aus
der Function, welche in der Maschine in die Erscheinung tritt,
sich verleiblicht, in Gegensätzen besondert; alles Besondere in
ihr folgt also aus der Einheit, und also hat der Theil nur im
Ganzen Bedeutung, das Ganze nur durch seine Theile; und die
Theile sind alle in gegenseitiger Uebereinstimmung, mit einem
gleichartigen Typus aus dem Innern des Gedankens heraus ent-
worfen. Andererseits aber mag man noch so sehr von inne-
rer Nothwendigkeit des Organischen sprechen, von seiner Ent-
wickelung von innen, es entwickelt und erhält sich doch nur
durch Aufnahme geeigneter Stoffe von außen; schneidet ihm
nur Luft und Nahrung und Licht ab, und lasset es sich von
innen entwickeln!
Indessen müssen wir es uns doch gefallen lassen, wenn
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chen Organismus von der natürlichen Maschine — nach Obigem
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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/44>, abgerufen am 21.11.2024.
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