Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Steub, Ludwig: Drei Sommer in Tirol. München, 1846.

Bild:
<< vorherige Seite

ganz mählich an der Halde hin, welche düster und mißfarbig an den Wänden von Glimmerschiefer abbrach, und nur etwa an den Ufern der stürzenden Wässer freundlichern Krautwuchs zeigte. Im Frühjahre ist das Thälchen dagegen sehr blumenreich, und da überzieht die Abhänge vor allem der duftende Speik (Primula glutinosa), die geehrteste aller Alpenblumen. Rückwärts blickend hätten wir jetzt wohl auch die prächtige Wildspitze sehen müssen, die höchste des Oetzthalerstockes, welche 11,912 Wiener Fuß über das Meer emporsteigt, aber auf den Höhen lagen noch trübe Nebel, was wir wegen der gerühmten Schönheit jener Ansicht sehr bedauerten.

So hatten wir eine gute Strecke zurückgelegt als wir zu einem Bildstöckchen kamen, auf dessen Tafel ein sitzendes Weib gemalt ist mit einem neugebornen nackten Kind im Schooß. Die Mutter Gottes schaut aus den Wolken gnädig herab. Der Rofner Bauer erzählte, hier habe sein Oheim vor Jahren in Wind und Wetter ein gebärendes Weib gefunden, und in ihren Todesängsten sie gerettet. Dessen zum Angedenken habe er die Tafel machen lassen. Sie aber, setzte er hinzu, sie war ein Lottermensch von Schnals. Mein Gott! sagte einer von uns, so gibt es also auch hier in diesen keuschen Wildnissen solche Opfer der Verführung, und sie gebären an den Fernern, um ihre Schmach den Augen der Menschen zu verbergen! Aus Sittsamkeit forschte keiner mehr nach nähern Umständen, und so erfuhren wir erst drüben im Vintschgau mit frohem Erstaunen daß ein Lottermensch nichts Unehrlicheres bedeute als ein Bettelweib, wornach sich denn die Beurtheilung des Falles wesentlich berichtigte.

Dann kamen wir auch bald zu einer kleinen schwarzgrauen Hütte, welche ungemein kunstlos aus übereinander gelegten Steinen an die Halde hingebaut war. Die Vorderseite ragte kaum mannshoch über den Boden auf; Fenster hatte sie nicht, aber eine niedere Thüre. Aus dieser trat ein Mann, anzusehen wie Robinson Crusoe, in Thierhäute gehüllt, mit verwirrten Haaren, ungewaschen vielleicht seit Monden. Er zeigte sehr viele Freude daß wir uns zu ihm heraufbemüht, und wir dann auch nicht minder daß wir so angenehmen Eindruck

ganz mählich an der Halde hin, welche düster und mißfarbig an den Wänden von Glimmerschiefer abbrach, und nur etwa an den Ufern der stürzenden Wässer freundlichern Krautwuchs zeigte. Im Frühjahre ist das Thälchen dagegen sehr blumenreich, und da überzieht die Abhänge vor allem der duftende Speik (Primula glutinosa), die geehrteste aller Alpenblumen. Rückwärts blickend hätten wir jetzt wohl auch die prächtige Wildspitze sehen müssen, die höchste des Oetzthalerstockes, welche 11,912 Wiener Fuß über das Meer emporsteigt, aber auf den Höhen lagen noch trübe Nebel, was wir wegen der gerühmten Schönheit jener Ansicht sehr bedauerten.

So hatten wir eine gute Strecke zurückgelegt als wir zu einem Bildstöckchen kamen, auf dessen Tafel ein sitzendes Weib gemalt ist mit einem neugebornen nackten Kind im Schooß. Die Mutter Gottes schaut aus den Wolken gnädig herab. Der Rofner Bauer erzählte, hier habe sein Oheim vor Jahren in Wind und Wetter ein gebärendes Weib gefunden, und in ihren Todesängsten sie gerettet. Dessen zum Angedenken habe er die Tafel machen lassen. Sie aber, setzte er hinzu, sie war ein Lottermensch von Schnals. Mein Gott! sagte einer von uns, so gibt es also auch hier in diesen keuschen Wildnissen solche Opfer der Verführung, und sie gebären an den Fernern, um ihre Schmach den Augen der Menschen zu verbergen! Aus Sittsamkeit forschte keiner mehr nach nähern Umständen, und so erfuhren wir erst drüben im Vintschgau mit frohem Erstaunen daß ein Lottermensch nichts Unehrlicheres bedeute als ein Bettelweib, wornach sich denn die Beurtheilung des Falles wesentlich berichtigte.

Dann kamen wir auch bald zu einer kleinen schwarzgrauen Hütte, welche ungemein kunstlos aus übereinander gelegten Steinen an die Halde hingebaut war. Die Vorderseite ragte kaum mannshoch über den Boden auf; Fenster hatte sie nicht, aber eine niedere Thüre. Aus dieser trat ein Mann, anzusehen wie Robinson Crusoe, in Thierhäute gehüllt, mit verwirrten Haaren, ungewaschen vielleicht seit Monden. Er zeigte sehr viele Freude daß wir uns zu ihm heraufbemüht, und wir dann auch nicht minder daß wir so angenehmen Eindruck

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0240" n="236"/>
ganz mählich an der Halde hin, welche düster und mißfarbig an den Wänden von Glimmerschiefer abbrach, und nur etwa an den Ufern der stürzenden Wässer freundlichern Krautwuchs zeigte. Im Frühjahre ist das Thälchen dagegen sehr blumenreich, und da überzieht die Abhänge vor allem der duftende Speik <hi rendition="#aq">(Primula glutinosa)</hi>, die geehrteste aller Alpenblumen. Rückwärts blickend hätten wir jetzt wohl auch die prächtige Wildspitze sehen müssen, die höchste des Oetzthalerstockes, welche 11,912 Wiener Fuß über das Meer emporsteigt, aber auf den Höhen lagen noch trübe Nebel, was wir wegen der gerühmten Schönheit jener Ansicht sehr bedauerten.</p>
        <p>So hatten wir eine gute Strecke zurückgelegt als wir zu einem Bildstöckchen kamen, auf dessen Tafel ein sitzendes Weib gemalt ist mit einem neugebornen nackten Kind im Schooß. Die Mutter Gottes schaut aus den Wolken gnädig herab. Der Rofner Bauer erzählte, hier habe sein Oheim vor Jahren in Wind und Wetter ein gebärendes Weib gefunden, und in ihren Todesängsten sie gerettet. Dessen zum Angedenken habe er die Tafel machen lassen. Sie aber, setzte er hinzu, sie war ein Lottermensch von Schnals. Mein Gott! sagte einer von uns, so gibt es also auch hier in diesen keuschen Wildnissen solche Opfer der Verführung, und sie gebären an den Fernern, um ihre Schmach den Augen der Menschen zu verbergen! Aus Sittsamkeit forschte keiner mehr nach nähern Umständen, und so erfuhren wir erst drüben im Vintschgau mit frohem Erstaunen daß ein Lottermensch nichts Unehrlicheres bedeute als ein Bettelweib, wornach sich denn die Beurtheilung des Falles wesentlich berichtigte.</p>
        <p>Dann kamen wir auch bald zu einer kleinen schwarzgrauen Hütte, welche ungemein kunstlos aus übereinander gelegten Steinen an die Halde hingebaut war. Die Vorderseite ragte kaum mannshoch über den Boden auf; Fenster hatte sie nicht, aber eine niedere Thüre. Aus dieser trat ein Mann, anzusehen wie Robinson Crusoe, in Thierhäute gehüllt, mit verwirrten Haaren, ungewaschen vielleicht seit Monden. Er zeigte sehr viele Freude daß wir uns zu ihm heraufbemüht, und wir dann auch nicht minder daß wir so angenehmen Eindruck
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[236/0240] ganz mählich an der Halde hin, welche düster und mißfarbig an den Wänden von Glimmerschiefer abbrach, und nur etwa an den Ufern der stürzenden Wässer freundlichern Krautwuchs zeigte. Im Frühjahre ist das Thälchen dagegen sehr blumenreich, und da überzieht die Abhänge vor allem der duftende Speik (Primula glutinosa), die geehrteste aller Alpenblumen. Rückwärts blickend hätten wir jetzt wohl auch die prächtige Wildspitze sehen müssen, die höchste des Oetzthalerstockes, welche 11,912 Wiener Fuß über das Meer emporsteigt, aber auf den Höhen lagen noch trübe Nebel, was wir wegen der gerühmten Schönheit jener Ansicht sehr bedauerten. So hatten wir eine gute Strecke zurückgelegt als wir zu einem Bildstöckchen kamen, auf dessen Tafel ein sitzendes Weib gemalt ist mit einem neugebornen nackten Kind im Schooß. Die Mutter Gottes schaut aus den Wolken gnädig herab. Der Rofner Bauer erzählte, hier habe sein Oheim vor Jahren in Wind und Wetter ein gebärendes Weib gefunden, und in ihren Todesängsten sie gerettet. Dessen zum Angedenken habe er die Tafel machen lassen. Sie aber, setzte er hinzu, sie war ein Lottermensch von Schnals. Mein Gott! sagte einer von uns, so gibt es also auch hier in diesen keuschen Wildnissen solche Opfer der Verführung, und sie gebären an den Fernern, um ihre Schmach den Augen der Menschen zu verbergen! Aus Sittsamkeit forschte keiner mehr nach nähern Umständen, und so erfuhren wir erst drüben im Vintschgau mit frohem Erstaunen daß ein Lottermensch nichts Unehrlicheres bedeute als ein Bettelweib, wornach sich denn die Beurtheilung des Falles wesentlich berichtigte. Dann kamen wir auch bald zu einer kleinen schwarzgrauen Hütte, welche ungemein kunstlos aus übereinander gelegten Steinen an die Halde hingebaut war. Die Vorderseite ragte kaum mannshoch über den Boden auf; Fenster hatte sie nicht, aber eine niedere Thüre. Aus dieser trat ein Mann, anzusehen wie Robinson Crusoe, in Thierhäute gehüllt, mit verwirrten Haaren, ungewaschen vielleicht seit Monden. Er zeigte sehr viele Freude daß wir uns zu ihm heraufbemüht, und wir dann auch nicht minder daß wir so angenehmen Eindruck

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2012-11-05T13:27:31Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Wikimedia Commons: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2012-11-05T13:27:31Z)
Frank Wiegand: Konvertierung von Wikisource-Markup nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2012-11-05T13:27:31Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Als Grundlage dienen die Wikisource:Editionsrichtlinien.
  • Geviertstriche werden als Halbgeviertstriche wiedergegeben.
  • Der Seitenwechsel erfolgt bei Worttrennung nach dem gesamten Wort.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/steub_tirol_1846
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/steub_tirol_1846/240
Zitationshilfe: Steub, Ludwig: Drei Sommer in Tirol. München, 1846, S. 236. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steub_tirol_1846/240>, abgerufen am 23.11.2024.