Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Steub, Ludwig: Drei Sommer in Tirol. München, 1846.

Bild:
<< vorherige Seite

weiter vordrang, gerieth ich in ein enges Nebenkämmerlein, worin ich ein paar Schulbänke und eine große schwarze Schreibtafel gewahrte. Hier ist die Wiege der litterarischen Bildung des Alpendorfes, denn hier wird im Winter Schule gehalten. Für die religiöse Erziehung sorgt der Curat, und der Gottesdienst ist in einer Capelle auf einem freien nahestehenden Hügel, so ausgewählt in ihrer Lage, damit ihr im Winter die Lawinen nichts anhaben können. Aber dennoch wirft es oft den Schnee in so überlegener Fülle, daß die Bewohner der nächsten Hütten einen Tag zu arbeiten haben, um den Laufgraben in die Kirche zu eröffnen.

Die rothbackige Walserin war übrigens mehr ernst als gesprächig. Ihr Auftreten hatte wegen der klappernden Holzschuhe, die sie trug, eine geräuschvolle Feierlichkeit. Für arcadisches Sommerleben schien sie vielen Sinn zu hegen. - "im Sommer ist's so lustig auf der Alm" - dagegen wollte sie die Eingebornen von Krumbach keineswegs beneiden, daß sie da oben bleiben müßten, um den langen Winter zu vertrauern, wenn sie im Herbste hinabzog zu den warmen Kunkelstuben am Mittelberg.

Noch geht's eine Weile auf gleicher Fläche fort bis zu einem kleinen See, von dem ein Bach in die Bregenzerache stürzt. Immer noch dieselbe stille Gegend, ohne Baum und Strauch, grüne Binsen in dem grünen See, grüne Kräuter an dem Ufer, ungeheurer hochaufgeschossener Huflattich, in dessen Dickicht sich das weidende Vieh verbirgt, darüber die eisigen Zinken und die reine ruhige feierliche Bergluft. Beim See aber bricht sich der Pfad: die grüne Au läuft plötzlich an einem Abgrund aus, und tief unten, entsetzlich tief, kaum noch erschaubar, zeigt sich durch den schwarzen Fichtenwald das weiße Kirchlein des Schreckens. Immer bergab, immer steiler und steiler fällt der Steig hinunter und jagt den Wanderer in athemlosen Sprüngen zu Thal, bis er sich endlich im Schrecken zur Ruhe setzen kann.

Ein heitrer Sommerhimmel mildert den wilden Ernst der wildesten Berglandschaft, aber dem Schrecken kann er doch nur wenig von seiner Schauerlichkeit benehmen. Es muß selbst dem

weiter vordrang, gerieth ich in ein enges Nebenkämmerlein, worin ich ein paar Schulbänke und eine große schwarze Schreibtafel gewahrte. Hier ist die Wiege der litterarischen Bildung des Alpendorfes, denn hier wird im Winter Schule gehalten. Für die religiöse Erziehung sorgt der Curat, und der Gottesdienst ist in einer Capelle auf einem freien nahestehenden Hügel, so ausgewählt in ihrer Lage, damit ihr im Winter die Lawinen nichts anhaben können. Aber dennoch wirft es oft den Schnee in so überlegener Fülle, daß die Bewohner der nächsten Hütten einen Tag zu arbeiten haben, um den Laufgraben in die Kirche zu eröffnen.

Die rothbackige Walserin war übrigens mehr ernst als gesprächig. Ihr Auftreten hatte wegen der klappernden Holzschuhe, die sie trug, eine geräuschvolle Feierlichkeit. Für arcadisches Sommerleben schien sie vielen Sinn zu hegen. – „im Sommer ist’s so lustig auf der Alm" – dagegen wollte sie die Eingebornen von Krumbach keineswegs beneiden, daß sie da oben bleiben müßten, um den langen Winter zu vertrauern, wenn sie im Herbste hinabzog zu den warmen Kunkelstuben am Mittelberg.

Noch geht’s eine Weile auf gleicher Fläche fort bis zu einem kleinen See, von dem ein Bach in die Bregenzerache stürzt. Immer noch dieselbe stille Gegend, ohne Baum und Strauch, grüne Binsen in dem grünen See, grüne Kräuter an dem Ufer, ungeheurer hochaufgeschossener Huflattich, in dessen Dickicht sich das weidende Vieh verbirgt, darüber die eisigen Zinken und die reine ruhige feierliche Bergluft. Beim See aber bricht sich der Pfad: die grüne Au läuft plötzlich an einem Abgrund aus, und tief unten, entsetzlich tief, kaum noch erschaubar, zeigt sich durch den schwarzen Fichtenwald das weiße Kirchlein des Schreckens. Immer bergab, immer steiler und steiler fällt der Steig hinunter und jagt den Wanderer in athemlosen Sprüngen zu Thal, bis er sich endlich im Schrecken zur Ruhe setzen kann.

Ein heitrer Sommerhimmel mildert den wilden Ernst der wildesten Berglandschaft, aber dem Schrecken kann er doch nur wenig von seiner Schauerlichkeit benehmen. Es muß selbst dem

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0040" n="35"/>
weiter vordrang, gerieth ich in ein enges Nebenkämmerlein, worin ich ein paar Schulbänke und eine große schwarze Schreibtafel gewahrte. Hier ist die Wiege der litterarischen Bildung des Alpendorfes, denn hier wird im Winter Schule gehalten. Für die religiöse Erziehung sorgt der Curat, und der Gottesdienst ist in einer Capelle auf einem freien nahestehenden Hügel, so ausgewählt in ihrer Lage, damit ihr im Winter die Lawinen nichts anhaben können. Aber dennoch wirft es oft den Schnee in so überlegener Fülle, daß die Bewohner der nächsten Hütten einen Tag zu arbeiten haben, um den Laufgraben in die Kirche zu eröffnen.</p>
        <p>Die rothbackige Walserin war übrigens mehr ernst als gesprächig. Ihr Auftreten hatte wegen der klappernden Holzschuhe, die sie trug, eine geräuschvolle Feierlichkeit. Für arcadisches Sommerleben schien sie vielen Sinn zu hegen. &#x2013; &#x201E;im Sommer ist&#x2019;s so lustig auf der Alm" &#x2013; dagegen wollte sie die Eingebornen von Krumbach keineswegs beneiden, daß sie da oben bleiben müßten, um den langen Winter zu vertrauern, wenn sie im Herbste hinabzog zu den warmen Kunkelstuben am Mittelberg.</p>
        <p>Noch geht&#x2019;s eine Weile auf gleicher Fläche fort bis zu einem kleinen See, von dem ein Bach in die Bregenzerache stürzt. Immer noch dieselbe stille Gegend, ohne Baum und Strauch, grüne Binsen in dem grünen See, grüne Kräuter an dem Ufer, ungeheurer hochaufgeschossener Huflattich, in dessen Dickicht sich das weidende Vieh verbirgt, darüber die eisigen Zinken und die reine ruhige feierliche Bergluft. Beim See aber bricht sich der Pfad: die grüne Au läuft plötzlich an einem Abgrund aus, und tief unten, entsetzlich tief, kaum noch erschaubar, zeigt sich durch den schwarzen Fichtenwald das weiße Kirchlein des <hi rendition="#g">Schreckens</hi>. Immer bergab, immer steiler und steiler fällt der Steig hinunter und jagt den Wanderer in athemlosen Sprüngen zu Thal, bis er sich endlich im Schrecken zur Ruhe setzen kann.</p>
        <p>Ein heitrer Sommerhimmel mildert den wilden Ernst der wildesten Berglandschaft, aber dem Schrecken kann er doch nur wenig von seiner Schauerlichkeit benehmen. Es muß selbst dem
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[35/0040] weiter vordrang, gerieth ich in ein enges Nebenkämmerlein, worin ich ein paar Schulbänke und eine große schwarze Schreibtafel gewahrte. Hier ist die Wiege der litterarischen Bildung des Alpendorfes, denn hier wird im Winter Schule gehalten. Für die religiöse Erziehung sorgt der Curat, und der Gottesdienst ist in einer Capelle auf einem freien nahestehenden Hügel, so ausgewählt in ihrer Lage, damit ihr im Winter die Lawinen nichts anhaben können. Aber dennoch wirft es oft den Schnee in so überlegener Fülle, daß die Bewohner der nächsten Hütten einen Tag zu arbeiten haben, um den Laufgraben in die Kirche zu eröffnen. Die rothbackige Walserin war übrigens mehr ernst als gesprächig. Ihr Auftreten hatte wegen der klappernden Holzschuhe, die sie trug, eine geräuschvolle Feierlichkeit. Für arcadisches Sommerleben schien sie vielen Sinn zu hegen. – „im Sommer ist’s so lustig auf der Alm" – dagegen wollte sie die Eingebornen von Krumbach keineswegs beneiden, daß sie da oben bleiben müßten, um den langen Winter zu vertrauern, wenn sie im Herbste hinabzog zu den warmen Kunkelstuben am Mittelberg. Noch geht’s eine Weile auf gleicher Fläche fort bis zu einem kleinen See, von dem ein Bach in die Bregenzerache stürzt. Immer noch dieselbe stille Gegend, ohne Baum und Strauch, grüne Binsen in dem grünen See, grüne Kräuter an dem Ufer, ungeheurer hochaufgeschossener Huflattich, in dessen Dickicht sich das weidende Vieh verbirgt, darüber die eisigen Zinken und die reine ruhige feierliche Bergluft. Beim See aber bricht sich der Pfad: die grüne Au läuft plötzlich an einem Abgrund aus, und tief unten, entsetzlich tief, kaum noch erschaubar, zeigt sich durch den schwarzen Fichtenwald das weiße Kirchlein des Schreckens. Immer bergab, immer steiler und steiler fällt der Steig hinunter und jagt den Wanderer in athemlosen Sprüngen zu Thal, bis er sich endlich im Schrecken zur Ruhe setzen kann. Ein heitrer Sommerhimmel mildert den wilden Ernst der wildesten Berglandschaft, aber dem Schrecken kann er doch nur wenig von seiner Schauerlichkeit benehmen. Es muß selbst dem

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2012-11-05T13:27:31Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Wikimedia Commons: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2012-11-05T13:27:31Z)
Frank Wiegand: Konvertierung von Wikisource-Markup nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2012-11-05T13:27:31Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Als Grundlage dienen die Wikisource:Editionsrichtlinien.
  • Geviertstriche werden als Halbgeviertstriche wiedergegeben.
  • Der Seitenwechsel erfolgt bei Worttrennung nach dem gesamten Wort.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/steub_tirol_1846
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/steub_tirol_1846/40
Zitationshilfe: Steub, Ludwig: Drei Sommer in Tirol. München, 1846, S. 35. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steub_tirol_1846/40>, abgerufen am 02.05.2024.