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Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 1. Pesth, 1857.

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Da verfiel ich eines Tages auf das Zeichnen. Ich
könnte mir ja meine Naturgegenstände, dachte ich, eben
so gut zeichnen als beschreiben, und die Zeichnung sei
am Ende noch sogar besser als die Beschreibung. Ich
erstaunte, weßhalb ich denn nicht sogleich auf den Ge¬
danken gerathen sei. Ich hatte wohl früher immer
gezeichnet, aber mit mathematischen Linien, welche
nach Rechnungsgesezen entstanden, Flächen und Körper
in der Meßkunst darstellten, und mit Zirkel und Richt¬
scheit gemacht worden waren. Ich wußte wohl recht
gut, daß man mit Linien alle möglichen Körper dar¬
stellen könne, und hatte es an den Bildern meines
Vaters vollführt gesehen: aber ich hatte nicht weiter
darüber gedacht, da ich in einer andern Richtung be¬
schäftigt war. Es mußte diese Vernachlässigung von
einer Eigenschaft in mir herrühren, die ich in einem
hohen Grade besaß, und die man mir zum Vorwurfe
machte. Wenn ich nehmlich mit einem Gegenstande
eifrig beschäftigt war, so vergaß ich darüber manchen
andern, der vielleicht größere Bedeutung hatte. Sie
sagten, das sei einseitig, ja es sei sogar Mangel an
Gefühl.

Ich fing mein Zeichnen mit Pflanzen an, mit
Blättern mit Stielen mit Zweigen. Es war Anfangs

Da verfiel ich eines Tages auf das Zeichnen. Ich
könnte mir ja meine Naturgegenſtände, dachte ich, eben
ſo gut zeichnen als beſchreiben, und die Zeichnung ſei
am Ende noch ſogar beſſer als die Beſchreibung. Ich
erſtaunte, weßhalb ich denn nicht ſogleich auf den Ge¬
danken gerathen ſei. Ich hatte wohl früher immer
gezeichnet, aber mit mathematiſchen Linien, welche
nach Rechnungsgeſezen entſtanden, Flächen und Körper
in der Meßkunſt darſtellten, und mit Zirkel und Richt¬
ſcheit gemacht worden waren. Ich wußte wohl recht
gut, daß man mit Linien alle möglichen Körper dar¬
ſtellen könne, und hatte es an den Bildern meines
Vaters vollführt geſehen: aber ich hatte nicht weiter
darüber gedacht, da ich in einer andern Richtung be¬
ſchäftigt war. Es mußte dieſe Vernachläſſigung von
einer Eigenſchaft in mir herrühren, die ich in einem
hohen Grade beſaß, und die man mir zum Vorwurfe
machte. Wenn ich nehmlich mit einem Gegenſtande
eifrig beſchäftigt war, ſo vergaß ich darüber manchen
andern, der vielleicht größere Bedeutung hatte. Sie
ſagten, das ſei einſeitig, ja es ſei ſogar Mangel an
Gefühl.

Ich fing mein Zeichnen mit Pflanzen an, mit
Blättern mit Stielen mit Zweigen. Es war Anfangs

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[53/0067] Da verfiel ich eines Tages auf das Zeichnen. Ich könnte mir ja meine Naturgegenſtände, dachte ich, eben ſo gut zeichnen als beſchreiben, und die Zeichnung ſei am Ende noch ſogar beſſer als die Beſchreibung. Ich erſtaunte, weßhalb ich denn nicht ſogleich auf den Ge¬ danken gerathen ſei. Ich hatte wohl früher immer gezeichnet, aber mit mathematiſchen Linien, welche nach Rechnungsgeſezen entſtanden, Flächen und Körper in der Meßkunſt darſtellten, und mit Zirkel und Richt¬ ſcheit gemacht worden waren. Ich wußte wohl recht gut, daß man mit Linien alle möglichen Körper dar¬ ſtellen könne, und hatte es an den Bildern meines Vaters vollführt geſehen: aber ich hatte nicht weiter darüber gedacht, da ich in einer andern Richtung be¬ ſchäftigt war. Es mußte dieſe Vernachläſſigung von einer Eigenſchaft in mir herrühren, die ich in einem hohen Grade beſaß, und die man mir zum Vorwurfe machte. Wenn ich nehmlich mit einem Gegenſtande eifrig beſchäftigt war, ſo vergaß ich darüber manchen andern, der vielleicht größere Bedeutung hatte. Sie ſagten, das ſei einſeitig, ja es ſei ſogar Mangel an Gefühl. Ich fing mein Zeichnen mit Pflanzen an, mit Blättern mit Stielen mit Zweigen. Es war Anfangs

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Zitationshilfe: Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 1. Pesth, 1857, S. 53. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stifter_nachsommer01_1857/67>, abgerufen am 21.11.2024.