große Gewalt, die solche Kunstwerke auf den eben¬ mäßig gebildeten Geist ausüben, eine Gewalt, die in ihrer Wirkung bei einem Menschen, wenn er altert, nicht abnimmt, sondern wächst, und darum ist es für den in der Kunst Gebildeten so wie für den völlig Unbefangenen, wenn sein Gemüth nur überhaupt dem Reize zugänglich ist, so leicht, solche Kunstwerke zu erkennen. Ich erinnere mich eines Beispieles für diese meine Behauptung, welches sehr merkwürdig ist. Ich war einmal in einem Saale von alten Stand¬ bildern, in welchem sich ein aus weißem Marmor ver¬ fertigter auf seinem Size zurückgesunkener und schla¬ fender Jüngling befand. Es kamen Landleute in den Saal, deren Tracht schließen ließ, daß sie in einem sehr entfernten Theile des Landes wohnten. Sie hatten lange Röcke, und auf ihren Schnallenschuhen lag der Staub einer vielleicht erst heute Morgen voll¬ brachten Wanderung. Als sie in die Nähe des Jüng¬ lings kamen, gingen sie behutsam auf den Spizen ihrer Schuhe vollends hinzu. Eine so unmittelbare und tiefe Anerkennung ist wohl selten einem Meister zu Theil geworden. Wer aber in einer bestimmten Rich¬ tung befangen ist, und nur die Schönheit, die in ihr liegt, zu fassen und zu genießen versteht, oder wer sich
große Gewalt, die ſolche Kunſtwerke auf den eben¬ mäßig gebildeten Geiſt ausüben, eine Gewalt, die in ihrer Wirkung bei einem Menſchen, wenn er altert, nicht abnimmt, ſondern wächſt, und darum iſt es für den in der Kunſt Gebildeten ſo wie für den völlig Unbefangenen, wenn ſein Gemüth nur überhaupt dem Reize zugänglich iſt, ſo leicht, ſolche Kunſtwerke zu erkennen. Ich erinnere mich eines Beiſpieles für dieſe meine Behauptung, welches ſehr merkwürdig iſt. Ich war einmal in einem Saale von alten Stand¬ bildern, in welchem ſich ein aus weißem Marmor ver¬ fertigter auf ſeinem Size zurückgeſunkener und ſchla¬ fender Jüngling befand. Es kamen Landleute in den Saal, deren Tracht ſchließen ließ, daß ſie in einem ſehr entfernten Theile des Landes wohnten. Sie hatten lange Röcke, und auf ihren Schnallenſchuhen lag der Staub einer vielleicht erſt heute Morgen voll¬ brachten Wanderung. Als ſie in die Nähe des Jüng¬ lings kamen, gingen ſie behutſam auf den Spizen ihrer Schuhe vollends hinzu. Eine ſo unmittelbare und tiefe Anerkennung iſt wohl ſelten einem Meiſter zu Theil geworden. Wer aber in einer beſtimmten Rich¬ tung befangen iſt, und nur die Schönheit, die in ihr liegt, zu faſſen und zu genießen verſteht, oder wer ſich
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große Gewalt, die ſolche Kunſtwerke auf den eben¬
mäßig gebildeten Geiſt ausüben, eine Gewalt, die in
ihrer Wirkung bei einem Menſchen, wenn er altert,
nicht abnimmt, ſondern wächſt, und darum iſt es für
den in der Kunſt Gebildeten ſo wie für den völlig
Unbefangenen, wenn ſein Gemüth nur überhaupt
dem Reize zugänglich iſt, ſo leicht, ſolche Kunſtwerke
zu erkennen. Ich erinnere mich eines Beiſpieles für
dieſe meine Behauptung, welches ſehr merkwürdig
iſt. Ich war einmal in einem Saale von alten Stand¬
bildern, in welchem ſich ein aus weißem Marmor ver¬
fertigter auf ſeinem Size zurückgeſunkener und ſchla¬
fender Jüngling befand. Es kamen Landleute in den
Saal, deren Tracht ſchließen ließ, daß ſie in einem
ſehr entfernten Theile des Landes wohnten. Sie
hatten lange Röcke, und auf ihren Schnallenſchuhen
lag der Staub einer vielleicht erſt heute Morgen voll¬
brachten Wanderung. Als ſie in die Nähe des Jüng¬
lings kamen, gingen ſie behutſam auf den Spizen
ihrer Schuhe vollends hinzu. Eine ſo unmittelbare
und tiefe Anerkennung iſt wohl ſelten einem Meiſter zu
Theil geworden. Wer aber in einer beſtimmten Rich¬
tung befangen iſt, und nur die Schönheit, die in ihr
liegt, zu faſſen und zu genießen verſteht, oder wer ſich
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Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 2. Pesth, 1857, S. 127. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stifter_nachsommer02_1857/141>, abgerufen am 21.11.2024.
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