Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 2. Pesth, 1857.

Bild:
<< vorherige Seite

war doch mein früherer Zustand noch mehr oder we¬
niger unbewußt vorherrschend, und die Kunst des
Pinsels fand von mir nicht die Hingabe, die sie ver¬
dient hätte. Als ich jezt mit Eustach die Zeichnungen
mittelalterlicher bildender Kunst durchging, als ich
mit ihm ein mir wie ein neues Wunder aufgegange¬
nes Werk des alten Griechenthums betrachtete, als
ich dieses Werk mit den minder alten unserer Vorfah¬
ren verglich, und die Unterschiede und Beziehungen
einsehen lernte: da fing ich auch an, die Gemälde
meines Gastfreundes anders zu betrachten, als ich
bisher sie und andere Gemälde betrachtet hatte. Ich
ging nicht nur oft in sein Bilderzimmer, und verweilte
lange Zeit in demselben, sondern ich ließ mir auch
das Verzeichniß der Bilder geben, um nach und nach
die Meister kennen zu lernen, die er versammelt hatte,
ich bath, daß mir erlaubt werde, mir das eine oder
andere Bild, wie ich es eben wünschte, auf die Staf¬
felei stellen zu dürfen, um es so kennen zu lernen, wie
mich ein innerer Drang trieb, und ich brachte oft
mehrere Tage in Untersuchung eines einzigen Bildes
zu. Welch ein neues Reich öffnete sich vor meinen
Blicken! Wie die Dichter mir eine Welt der Seele
aufschlossen, so lag hier wieder eine Welt, es war

Stifter, Nachsommer. II. 10

war doch mein früherer Zuſtand noch mehr oder we¬
niger unbewußt vorherrſchend, und die Kunſt des
Pinſels fand von mir nicht die Hingabe, die ſie ver¬
dient hätte. Als ich jezt mit Euſtach die Zeichnungen
mittelalterlicher bildender Kunſt durchging, als ich
mit ihm ein mir wie ein neues Wunder aufgegange¬
nes Werk des alten Griechenthums betrachtete, als
ich dieſes Werk mit den minder alten unſerer Vorfah¬
ren verglich, und die Unterſchiede und Beziehungen
einſehen lernte: da fing ich auch an, die Gemälde
meines Gaſtfreundes anders zu betrachten, als ich
bisher ſie und andere Gemälde betrachtet hatte. Ich
ging nicht nur oft in ſein Bilderzimmer, und verweilte
lange Zeit in demſelben, ſondern ich ließ mir auch
das Verzeichniß der Bilder geben, um nach und nach
die Meiſter kennen zu lernen, die er verſammelt hatte,
ich bath, daß mir erlaubt werde, mir das eine oder
andere Bild, wie ich es eben wünſchte, auf die Staf¬
felei ſtellen zu dürfen, um es ſo kennen zu lernen, wie
mich ein innerer Drang trieb, und ich brachte oft
mehrere Tage in Unterſuchung eines einzigen Bildes
zu. Welch ein neues Reich öffnete ſich vor meinen
Blicken! Wie die Dichter mir eine Welt der Seele
aufſchloſſen, ſo lag hier wieder eine Welt, es war

Stifter, Nachſommer. II. 10
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0159" n="145"/>
war doch mein früherer Zu&#x017F;tand noch mehr oder we¬<lb/>
niger unbewußt vorherr&#x017F;chend, und die Kun&#x017F;t des<lb/>
Pin&#x017F;els fand von mir nicht die Hingabe, die &#x017F;ie ver¬<lb/>
dient hätte. Als ich jezt mit Eu&#x017F;tach die Zeichnungen<lb/>
mittelalterlicher bildender Kun&#x017F;t durchging, als ich<lb/>
mit ihm ein mir wie ein neues Wunder aufgegange¬<lb/>
nes Werk des alten Griechenthums betrachtete, als<lb/>
ich die&#x017F;es Werk mit den minder alten un&#x017F;erer Vorfah¬<lb/>
ren verglich, und die Unter&#x017F;chiede und Beziehungen<lb/>
ein&#x017F;ehen lernte: da fing ich auch an, die Gemälde<lb/>
meines Ga&#x017F;tfreundes anders zu betrachten, als ich<lb/>
bisher &#x017F;ie und andere Gemälde betrachtet hatte. Ich<lb/>
ging nicht nur oft in &#x017F;ein Bilderzimmer, und verweilte<lb/>
lange Zeit in dem&#x017F;elben, &#x017F;ondern ich ließ mir auch<lb/>
das Verzeichniß der Bilder geben, um nach und nach<lb/>
die Mei&#x017F;ter kennen zu lernen, die er ver&#x017F;ammelt hatte,<lb/>
ich bath, daß mir erlaubt werde, mir das eine oder<lb/>
andere Bild, wie ich es eben wün&#x017F;chte, auf die Staf¬<lb/>
felei &#x017F;tellen zu dürfen, um es &#x017F;o kennen zu lernen, wie<lb/>
mich ein innerer Drang trieb, und ich brachte oft<lb/>
mehrere Tage in Unter&#x017F;uchung eines einzigen Bildes<lb/>
zu. Welch ein neues Reich öffnete &#x017F;ich vor meinen<lb/>
Blicken! Wie die Dichter mir eine Welt der Seele<lb/>
auf&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en, &#x017F;o lag hier wieder eine Welt, es war<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#g">Stifter</hi>, Nach&#x017F;ommer. <hi rendition="#aq">II</hi>. 10<lb/></fw>
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[145/0159] war doch mein früherer Zuſtand noch mehr oder we¬ niger unbewußt vorherrſchend, und die Kunſt des Pinſels fand von mir nicht die Hingabe, die ſie ver¬ dient hätte. Als ich jezt mit Euſtach die Zeichnungen mittelalterlicher bildender Kunſt durchging, als ich mit ihm ein mir wie ein neues Wunder aufgegange¬ nes Werk des alten Griechenthums betrachtete, als ich dieſes Werk mit den minder alten unſerer Vorfah¬ ren verglich, und die Unterſchiede und Beziehungen einſehen lernte: da fing ich auch an, die Gemälde meines Gaſtfreundes anders zu betrachten, als ich bisher ſie und andere Gemälde betrachtet hatte. Ich ging nicht nur oft in ſein Bilderzimmer, und verweilte lange Zeit in demſelben, ſondern ich ließ mir auch das Verzeichniß der Bilder geben, um nach und nach die Meiſter kennen zu lernen, die er verſammelt hatte, ich bath, daß mir erlaubt werde, mir das eine oder andere Bild, wie ich es eben wünſchte, auf die Staf¬ felei ſtellen zu dürfen, um es ſo kennen zu lernen, wie mich ein innerer Drang trieb, und ich brachte oft mehrere Tage in Unterſuchung eines einzigen Bildes zu. Welch ein neues Reich öffnete ſich vor meinen Blicken! Wie die Dichter mir eine Welt der Seele aufſchloſſen, ſo lag hier wieder eine Welt, es war Stifter, Nachſommer. II. 10

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/stifter_nachsommer02_1857
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/stifter_nachsommer02_1857/159
Zitationshilfe: Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 2. Pesth, 1857, S. 145. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stifter_nachsommer02_1857/159>, abgerufen am 24.11.2024.