sieht, so beirrt mich das nicht, sehen doch die Jesus¬ kinder und die Johanneskinder des herrlichen Rafael auch so aus, und die Wirkung ist doch eine so gewal¬ tige. Daß die Mutter, deren Mund so schön ist, die Augen gegen Himmel wendet, sagt mir nicht ganz zu. Die Wirkung, scheint mir, ist hierin ein wenig überbothen, und der Künstler legt in eine Handlung, die er seine Gestalt vor uns vornehmen läßt, eine Bedeutung, von der er nicht machen kann, daß wir sie in der bloßen Gestalt sehen. Wer durch einfachere Mittel wirkt, wirkt besser. Wenn er die Heiligkeit und Hoheit statt in die erhobenen Augen in die bloße Gestalt hätte legen können, wobei die Augen einfach vor sich hinblickten, so hätte er besser gethan. Rafael läßt seine Madonnen ruhig und ernst blicken, und sie werden Himmelsköniginnen, während so manche andere nur bethende Mädchen sind. Aus diesem möchte ich auch schließen, daß das Bild nicht aus der Rafaelschen Schule ist, so sehr die herrliche Gestalt des Kindes daran erinnert. Das Bild hängt nicht mehr dort, wo es Anfangs war. Wir haben alle Bilder mehrere Male umgehängt, und es ge¬ währt eine eigene Freude, zu versuchen, ob in einer andern Anordnung die Wirkung des Ganzen nicht
ſieht, ſo beirrt mich das nicht, ſehen doch die Jeſus¬ kinder und die Johanneskinder des herrlichen Rafael auch ſo aus, und die Wirkung iſt doch eine ſo gewal¬ tige. Daß die Mutter, deren Mund ſo ſchön iſt, die Augen gegen Himmel wendet, ſagt mir nicht ganz zu. Die Wirkung, ſcheint mir, iſt hierin ein wenig überbothen, und der Künſtler legt in eine Handlung, die er ſeine Geſtalt vor uns vornehmen läßt, eine Bedeutung, von der er nicht machen kann, daß wir ſie in der bloßen Geſtalt ſehen. Wer durch einfachere Mittel wirkt, wirkt beſſer. Wenn er die Heiligkeit und Hoheit ſtatt in die erhobenen Augen in die bloße Geſtalt hätte legen können, wobei die Augen einfach vor ſich hinblickten, ſo hätte er beſſer gethan. Rafael läßt ſeine Madonnen ruhig und ernſt blicken, und ſie werden Himmelsköniginnen, während ſo manche andere nur bethende Mädchen ſind. Aus dieſem möchte ich auch ſchließen, daß das Bild nicht aus der Rafaelſchen Schule iſt, ſo ſehr die herrliche Geſtalt des Kindes daran erinnert. Das Bild hängt nicht mehr dort, wo es Anfangs war. Wir haben alle Bilder mehrere Male umgehängt, und es ge¬ währt eine eigene Freude, zu verſuchen, ob in einer andern Anordnung die Wirkung des Ganzen nicht
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ſieht, ſo beirrt mich das nicht, ſehen doch die Jeſus¬
kinder und die Johanneskinder des herrlichen Rafael
auch ſo aus, und die Wirkung iſt doch eine ſo gewal¬
tige. Daß die Mutter, deren Mund ſo ſchön iſt,
die Augen gegen Himmel wendet, ſagt mir nicht
ganz zu. Die Wirkung, ſcheint mir, iſt hierin ein
wenig überbothen, und der Künſtler legt in eine
Handlung, die er ſeine Geſtalt vor uns vornehmen
läßt, eine Bedeutung, von der er nicht machen kann,
daß wir ſie in der bloßen Geſtalt ſehen. Wer durch
einfachere Mittel wirkt, wirkt beſſer. Wenn er die
Heiligkeit und Hoheit ſtatt in die erhobenen Augen
in die bloße Geſtalt hätte legen können, wobei die
Augen einfach vor ſich hinblickten, ſo hätte er beſſer
gethan. Rafael läßt ſeine Madonnen ruhig und ernſt
blicken, und ſie werden Himmelsköniginnen, während
ſo manche andere nur bethende Mädchen ſind. Aus
dieſem möchte ich auch ſchließen, daß das Bild nicht
aus der Rafaelſchen Schule iſt, ſo ſehr die herrliche
Geſtalt des Kindes daran erinnert. Das Bild hängt
nicht mehr dort, wo es Anfangs war. Wir haben
alle Bilder mehrere Male umgehängt, und es ge¬
währt eine eigene Freude, zu verſuchen, ob in einer
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Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 2. Pesth, 1857, S. 166. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stifter_nachsommer02_1857/180>, abgerufen am 16.02.2025.
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