bin ohne Norm, ohne Gesetz, ohne Muster u. dgl. Möglich, daß Ich aus Mir sehr wenig machen kann; dieß Wenige ist aber Alles und ist besser, als was Ich aus Mir machen lasse durch die Gewalt Anderer, durch die Dressur der Sitte, der Religion, der Gesetze, des Staates u. s. w. Besser -- wenn einmal von Besser die Rede sein soll -- besser ein ungezoge¬ nes, als ein altkluges Kind, besser ein widerwilliger als ein zu Allem williger Mensch. Der Ungezogene und Widerwillige befindet sich noch auf dem Wege, nach seinem eigenen Willen sich zu bilden; der Altkluge und Willige wird durch die "Gat¬ tung", die allgemeinen Anforderungen u. s. w. bestimmt, sie ist ihm Gesetz. Er wird dadurch bestimmt: denn, was ist ihm die Gattung anders, als seine "Bestimmung", sein "Be¬ ruf"? Ob Ich auf die "Menschheit", die Gattung, blicke, um diesem Ideal nachzustreben, oder auf Gott und Christus mit gleichem Streben: wie wäre darin eine wesentliche Ver¬ schiedenheit? Höchstens ist jenes verwaschener, als dieses. Wie der Einzelne die ganze Natur, so ist er auch die ganze Gattung.
Durch das, was Ich bin, ist allerdings alles bedingt, was Ich thue, denke u. s. w., kurz meine Aeußerung oder Offenbarung. Der Jude z. B. kann nur so oder so wollen, kann nur so "sich geben"; der Christ kann sich nur christlich geben und offenbaren u. s. w. Wäre es möglich, daß Du Jude oder Christ sein könntest, so brächtest Du freilich nur Jüdisches oder Christliches zu Tage; allein es ist nicht mög¬ lich, Du bleibst beim strengsten Wandel doch ein Egoist, ein Sünder gegen jenen Begriff, d. h. Du bist nicht -- Jude. Weil nun immer das Egoistische wieder durchblickt, so hat man nach einem vollkommneren Begriffe gefragt, der wirklich ganz
bin ohne Norm, ohne Geſetz, ohne Muſter u. dgl. Möglich, daß Ich aus Mir ſehr wenig machen kann; dieß Wenige iſt aber Alles und iſt beſſer, als was Ich aus Mir machen laſſe durch die Gewalt Anderer, durch die Dreſſur der Sitte, der Religion, der Geſetze, des Staates u. ſ. w. Beſſer — wenn einmal von Beſſer die Rede ſein ſoll — beſſer ein ungezoge¬ nes, als ein altkluges Kind, beſſer ein widerwilliger als ein zu Allem williger Menſch. Der Ungezogene und Widerwillige befindet ſich noch auf dem Wege, nach ſeinem eigenen Willen ſich zu bilden; der Altkluge und Willige wird durch die „Gat¬ tung“, die allgemeinen Anforderungen u. ſ. w. beſtimmt, ſie iſt ihm Geſetz. Er wird dadurch beſtimmt: denn, was iſt ihm die Gattung anders, als ſeine „Beſtimmung“, ſein „Be¬ ruf“? Ob Ich auf die „Menſchheit“, die Gattung, blicke, um dieſem Ideal nachzuſtreben, oder auf Gott und Chriſtus mit gleichem Streben: wie wäre darin eine weſentliche Ver¬ ſchiedenheit? Höchſtens iſt jenes verwaſchener, als dieſes. Wie der Einzelne die ganze Natur, ſo iſt er auch die ganze Gattung.
Durch das, was Ich bin, iſt allerdings alles bedingt, was Ich thue, denke u. ſ. w., kurz meine Aeußerung oder Offenbarung. Der Jude z. B. kann nur ſo oder ſo wollen, kann nur ſo „ſich geben“; der Chriſt kann ſich nur chriſtlich geben und offenbaren u. ſ. w. Wäre es möglich, daß Du Jude oder Chriſt ſein könnteſt, ſo brächteſt Du freilich nur Jüdiſches oder Chriſtliches zu Tage; allein es iſt nicht mög¬ lich, Du bleibſt beim ſtrengſten Wandel doch ein Egoiſt, ein Sünder gegen jenen Begriff, d. h. Du biſt nicht — Jude. Weil nun immer das Egoiſtiſche wieder durchblickt, ſo hat man nach einem vollkommneren Begriffe gefragt, der wirklich ganz
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0248"n="240"/>
bin ohne Norm, ohne Geſetz, ohne Muſter u. dgl. Möglich,<lb/>
daß Ich aus Mir ſehr wenig machen kann; dieß Wenige iſt<lb/>
aber Alles und iſt beſſer, als was Ich aus Mir machen laſſe<lb/>
durch die Gewalt Anderer, durch die Dreſſur der Sitte, der<lb/>
Religion, der Geſetze, des Staates u. ſ. w. Beſſer — wenn<lb/>
einmal von Beſſer die Rede ſein ſoll — beſſer ein ungezoge¬<lb/>
nes, als ein altkluges Kind, beſſer ein widerwilliger als ein<lb/>
zu Allem williger Menſch. Der Ungezogene und Widerwillige<lb/>
befindet ſich noch auf dem Wege, nach ſeinem eigenen Willen<lb/>ſich zu bilden; der Altkluge und Willige wird durch die „Gat¬<lb/>
tung“, die allgemeinen Anforderungen u. ſ. w. beſtimmt, ſie<lb/>
iſt ihm Geſetz. Er wird dadurch <hirendition="#g">beſtimmt</hi>: denn, was iſt<lb/>
ihm die Gattung anders, als ſeine „Beſtimmung“, ſein „Be¬<lb/>
ruf“? Ob Ich auf die „Menſchheit“, die Gattung, blicke,<lb/>
um dieſem Ideal nachzuſtreben, oder auf Gott und Chriſtus<lb/>
mit gleichem Streben: wie wäre darin eine weſentliche Ver¬<lb/>ſchiedenheit? Höchſtens iſt jenes verwaſchener, als dieſes.<lb/>
Wie der Einzelne die ganze Natur, ſo iſt er auch die ganze<lb/>
Gattung.</p><lb/><p>Durch das, was Ich bin, iſt allerdings alles <hirendition="#g">bedingt</hi>,<lb/>
was Ich thue, denke u. ſ. w., kurz meine Aeußerung oder<lb/>
Offenbarung. Der Jude z. B. kann nur ſo oder ſo wollen,<lb/>
kann nur ſo „ſich geben“; der Chriſt kann ſich nur chriſtlich<lb/>
geben und offenbaren u. ſ. w. Wäre es möglich, daß Du<lb/>
Jude oder Chriſt ſein könnteſt, ſo brächteſt Du freilich nur<lb/>
Jüdiſches oder Chriſtliches zu Tage; allein es iſt nicht mög¬<lb/>
lich, Du bleibſt beim ſtrengſten Wandel doch ein <hirendition="#g">Egoiſt</hi>, ein<lb/>
Sünder gegen jenen Begriff, d. h. Du biſt nicht — Jude.<lb/>
Weil nun immer das Egoiſtiſche wieder durchblickt, ſo hat man<lb/>
nach einem vollkommneren Begriffe gefragt, der wirklich ganz<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[240/0248]
bin ohne Norm, ohne Geſetz, ohne Muſter u. dgl. Möglich,
daß Ich aus Mir ſehr wenig machen kann; dieß Wenige iſt
aber Alles und iſt beſſer, als was Ich aus Mir machen laſſe
durch die Gewalt Anderer, durch die Dreſſur der Sitte, der
Religion, der Geſetze, des Staates u. ſ. w. Beſſer — wenn
einmal von Beſſer die Rede ſein ſoll — beſſer ein ungezoge¬
nes, als ein altkluges Kind, beſſer ein widerwilliger als ein
zu Allem williger Menſch. Der Ungezogene und Widerwillige
befindet ſich noch auf dem Wege, nach ſeinem eigenen Willen
ſich zu bilden; der Altkluge und Willige wird durch die „Gat¬
tung“, die allgemeinen Anforderungen u. ſ. w. beſtimmt, ſie
iſt ihm Geſetz. Er wird dadurch beſtimmt: denn, was iſt
ihm die Gattung anders, als ſeine „Beſtimmung“, ſein „Be¬
ruf“? Ob Ich auf die „Menſchheit“, die Gattung, blicke,
um dieſem Ideal nachzuſtreben, oder auf Gott und Chriſtus
mit gleichem Streben: wie wäre darin eine weſentliche Ver¬
ſchiedenheit? Höchſtens iſt jenes verwaſchener, als dieſes.
Wie der Einzelne die ganze Natur, ſo iſt er auch die ganze
Gattung.
Durch das, was Ich bin, iſt allerdings alles bedingt,
was Ich thue, denke u. ſ. w., kurz meine Aeußerung oder
Offenbarung. Der Jude z. B. kann nur ſo oder ſo wollen,
kann nur ſo „ſich geben“; der Chriſt kann ſich nur chriſtlich
geben und offenbaren u. ſ. w. Wäre es möglich, daß Du
Jude oder Chriſt ſein könnteſt, ſo brächteſt Du freilich nur
Jüdiſches oder Chriſtliches zu Tage; allein es iſt nicht mög¬
lich, Du bleibſt beim ſtrengſten Wandel doch ein Egoiſt, ein
Sünder gegen jenen Begriff, d. h. Du biſt nicht — Jude.
Weil nun immer das Egoiſtiſche wieder durchblickt, ſo hat man
nach einem vollkommneren Begriffe gefragt, der wirklich ganz
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 240. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/248>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.