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Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845.

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Gedachtes, und nur die christliche Angst und Qual, das Un¬
sichtbare sichtbar, das Geistige leibhaftig zu machen, erzeugte
das Gespenst und war der furchtsame Jammer des Gespenster¬
glaubens.

So lange Du an die Wahrheit glaubst, glaubst Du nicht
an Dich und bist ein -- Diener, ein -- religiöser
Mensch
. Du allein bist die Wahrheit, oder vielmehr, Du
bist mehr als die Wahrheit, die vor Dir gar nichts ist. Aller¬
dings fragst auch Du nach der Wahrheit, allerdings "kritisirst"
auch Du, aber Du fragst nicht nach einer "höhern Wahrheit",
die nämlich höher wäre als Du, und kritisirst nicht nach dem
Kriterium einer solchen. Du machst Dich an die Gedanken
und Vorstellungen wie an die Erscheinungen der Dinge nur
zu dem Zwecke, um sie Dir mundgerecht, genießbar und eigen
zu machen, Du willst sie nur bewältigen und ihr Eigner
werden, willst Dich in ihnen orientiren und zu Hause wissen,
und befindest sie wahr oder siehst sie in ihrem wahren Lichte
dann, wenn sie Dir nicht mehr entschlüpfen können, keine un¬
gepackte oder unbegriffene Stelle mehr haben, oder wenn sie
Dir recht, wenn sie dein Eigenthum sind. Werden sie
nachgehends wieder schwerer, entwinden sie deiner Gewalt sich
wieder, so ist das eben ihre Unwahrheit, nämlich deine Ohn¬
macht. Deine Ohnmacht ist ihre Macht, deine Demuth ihre
Hoheit. Ihre Wahrheit also bist Du oder ist das Nichts,
welches Du für sie bist und in welches sie zerfließen, ihre
Wahrheit ist ihre Nichtigkeit.

Erst als das Eigenthum Meiner kommen die Geister, die
Wahrheiten, zur Ruhe, und sie sind dann erst wirklich, wenn
ihnen die leidige Existenz entzogen und sie zu einem Eigenthum
Meiner gemacht werden, wenn es nicht mehr heißt: die Wahr¬

Gedachtes, und nur die chriſtliche Angſt und Qual, das Un¬
ſichtbare ſichtbar, das Geiſtige leibhaftig zu machen, erzeugte
das Geſpenſt und war der furchtſame Jammer des Geſpenſter¬
glaubens.

So lange Du an die Wahrheit glaubſt, glaubſt Du nicht
an Dich und biſt ein — Diener, ein — religiöſer
Menſch
. Du allein biſt die Wahrheit, oder vielmehr, Du
biſt mehr als die Wahrheit, die vor Dir gar nichts iſt. Aller¬
dings fragſt auch Du nach der Wahrheit, allerdings „kritiſirſt“
auch Du, aber Du fragſt nicht nach einer „höhern Wahrheit“,
die nämlich höher wäre als Du, und kritiſirſt nicht nach dem
Kriterium einer ſolchen. Du machſt Dich an die Gedanken
und Vorſtellungen wie an die Erſcheinungen der Dinge nur
zu dem Zwecke, um ſie Dir mundgerecht, genießbar und eigen
zu machen, Du willſt ſie nur bewältigen und ihr Eigner
werden, willſt Dich in ihnen orientiren und zu Hauſe wiſſen,
und befindeſt ſie wahr oder ſiehſt ſie in ihrem wahren Lichte
dann, wenn ſie Dir nicht mehr entſchlüpfen können, keine un¬
gepackte oder unbegriffene Stelle mehr haben, oder wenn ſie
Dir recht, wenn ſie dein Eigenthum ſind. Werden ſie
nachgehends wieder ſchwerer, entwinden ſie deiner Gewalt ſich
wieder, ſo iſt das eben ihre Unwahrheit, nämlich deine Ohn¬
macht. Deine Ohnmacht iſt ihre Macht, deine Demuth ihre
Hoheit. Ihre Wahrheit alſo biſt Du oder iſt das Nichts,
welches Du für ſie biſt und in welches ſie zerfließen, ihre
Wahrheit iſt ihre Nichtigkeit.

Erſt als das Eigenthum Meiner kommen die Geiſter, die
Wahrheiten, zur Ruhe, und ſie ſind dann erſt wirklich, wenn
ihnen die leidige Exiſtenz entzogen und ſie zu einem Eigenthum
Meiner gemacht werden, wenn es nicht mehr heißt: die Wahr¬

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[473/0481] Gedachtes, und nur die chriſtliche Angſt und Qual, das Un¬ ſichtbare ſichtbar, das Geiſtige leibhaftig zu machen, erzeugte das Geſpenſt und war der furchtſame Jammer des Geſpenſter¬ glaubens. So lange Du an die Wahrheit glaubſt, glaubſt Du nicht an Dich und biſt ein — Diener, ein — religiöſer Menſch. Du allein biſt die Wahrheit, oder vielmehr, Du biſt mehr als die Wahrheit, die vor Dir gar nichts iſt. Aller¬ dings fragſt auch Du nach der Wahrheit, allerdings „kritiſirſt“ auch Du, aber Du fragſt nicht nach einer „höhern Wahrheit“, die nämlich höher wäre als Du, und kritiſirſt nicht nach dem Kriterium einer ſolchen. Du machſt Dich an die Gedanken und Vorſtellungen wie an die Erſcheinungen der Dinge nur zu dem Zwecke, um ſie Dir mundgerecht, genießbar und eigen zu machen, Du willſt ſie nur bewältigen und ihr Eigner werden, willſt Dich in ihnen orientiren und zu Hauſe wiſſen, und befindeſt ſie wahr oder ſiehſt ſie in ihrem wahren Lichte dann, wenn ſie Dir nicht mehr entſchlüpfen können, keine un¬ gepackte oder unbegriffene Stelle mehr haben, oder wenn ſie Dir recht, wenn ſie dein Eigenthum ſind. Werden ſie nachgehends wieder ſchwerer, entwinden ſie deiner Gewalt ſich wieder, ſo iſt das eben ihre Unwahrheit, nämlich deine Ohn¬ macht. Deine Ohnmacht iſt ihre Macht, deine Demuth ihre Hoheit. Ihre Wahrheit alſo biſt Du oder iſt das Nichts, welches Du für ſie biſt und in welches ſie zerfließen, ihre Wahrheit iſt ihre Nichtigkeit. Erſt als das Eigenthum Meiner kommen die Geiſter, die Wahrheiten, zur Ruhe, und ſie ſind dann erſt wirklich, wenn ihnen die leidige Exiſtenz entzogen und ſie zu einem Eigenthum Meiner gemacht werden, wenn es nicht mehr heißt: die Wahr¬

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Zitationshilfe: Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 473. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/481>, abgerufen am 23.11.2024.