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Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845.

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dem sie dieselben für Gespenster hält. Die Ideen, mit denen
sie's zu thun hat, verschwinden nicht völlig: der Morgenhauch
eines neuen Tages verscheucht sie nicht.

Der Kritiker kann zwar zur Ataraxie gegen die Ideen
kommen, aber er wird sie niemals los, d. h. er wird nie
bereisen, daß nicht über dem leibhaftigen Menschen et¬
was Höheres existire, nämlich seine Menschlichkeit, die Freiheit
u. s. w. Es bleibt ihm immer noch ein "Beruf" des Men¬
schen übrig, die "Menschlichkeit". Und diese Idee der Mensch¬
lichkeit bleibt unrealisirt, weil sie eben "Idee" bleibt und blei¬
ben soll.

Fasse Ich dagegen die Idee als meine Idee, so ist sie
bereits realisirt, weil Ich ihre Realität bin: ihre Realität be¬
steht darin, daß Ich, der Leibhaftige, sie habe.

Man sagt, in der Weltgeschichte realisire sich die Idee
der Freiheit. Umgekehrt, diese Idee ist reel, sowie ein Mensch
sie denkt, und sie ist in dem Maaße reel als sie Idee ist, d.h.
als Ich sie denke oder habe. Nicht die Idee der Freiheit
entwickelt sich, sondern die Menschen entwickeln sich und ent¬
wickeln in dieser Selbstentwicklung natürlich auch ihr Denken.

Kurz der Kritiker ist noch nicht Eigner, weil er mit den
Ideen noch als mit mächtigen Fremden kämpft, wie der Christ
nicht Eigner seiner "schlechten Begierden" ist, so lange er sie
zu bekämpfen hat: wer gegen das Laster streitet, für den
existirt das Laster.

Die Kritik bleibt in der "Freiheit des Erkennens", der
Geistesfreiheit, stecken, und der Geist gewinnt seine rechte Frei¬
heit dann, wenn er sich mit der reinen, der wahren Idee er¬
füllt; das ist die Denkfreiheit, die nicht ohne Gedanken sein
kann.

dem ſie dieſelben für Geſpenſter hält. Die Ideen, mit denen
ſie's zu thun hat, verſchwinden nicht völlig: der Morgenhauch
eines neuen Tages verſcheucht ſie nicht.

Der Kritiker kann zwar zur Ataraxie gegen die Ideen
kommen, aber er wird ſie niemals los, d. h. er wird nie
bereiſen, daß nicht über dem leibhaftigen Menſchen et¬
was Höheres exiſtire, nämlich ſeine Menſchlichkeit, die Freiheit
u. ſ. w. Es bleibt ihm immer noch ein „Beruf“ des Men¬
ſchen übrig, die „Menſchlichkeit“. Und dieſe Idee der Menſch¬
lichkeit bleibt unrealiſirt, weil ſie eben „Idee“ bleibt und blei¬
ben ſoll.

Faſſe Ich dagegen die Idee als meine Idee, ſo iſt ſie
bereits realiſirt, weil Ich ihre Realität bin: ihre Realität be¬
ſteht darin, daß Ich, der Leibhaftige, ſie habe.

Man ſagt, in der Weltgeſchichte realiſire ſich die Idee
der Freiheit. Umgekehrt, dieſe Idee iſt reel, ſowie ein Menſch
ſie denkt, und ſie iſt in dem Maaße reel als ſie Idee iſt, d.h.
als Ich ſie denke oder habe. Nicht die Idee der Freiheit
entwickelt ſich, ſondern die Menſchen entwickeln ſich und ent¬
wickeln in dieſer Selbſtentwicklung natürlich auch ihr Denken.

Kurz der Kritiker iſt noch nicht Eigner, weil er mit den
Ideen noch als mit mächtigen Fremden kämpft, wie der Chriſt
nicht Eigner ſeiner „ſchlechten Begierden“ iſt, ſo lange er ſie
zu bekämpfen hat: wer gegen das Laſter ſtreitet, für den
exiſtirt das Laſter.

Die Kritik bleibt in der „Freiheit des Erkennens“, der
Geiſtesfreiheit, ſtecken, und der Geiſt gewinnt ſeine rechte Frei¬
heit dann, wenn er ſich mit der reinen, der wahren Idee er¬
füllt; das iſt die Denkfreiheit, die nicht ohne Gedanken ſein
kann.

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[477/0485] dem ſie dieſelben für Geſpenſter hält. Die Ideen, mit denen ſie's zu thun hat, verſchwinden nicht völlig: der Morgenhauch eines neuen Tages verſcheucht ſie nicht. Der Kritiker kann zwar zur Ataraxie gegen die Ideen kommen, aber er wird ſie niemals los, d. h. er wird nie bereiſen, daß nicht über dem leibhaftigen Menſchen et¬ was Höheres exiſtire, nämlich ſeine Menſchlichkeit, die Freiheit u. ſ. w. Es bleibt ihm immer noch ein „Beruf“ des Men¬ ſchen übrig, die „Menſchlichkeit“. Und dieſe Idee der Menſch¬ lichkeit bleibt unrealiſirt, weil ſie eben „Idee“ bleibt und blei¬ ben ſoll. Faſſe Ich dagegen die Idee als meine Idee, ſo iſt ſie bereits realiſirt, weil Ich ihre Realität bin: ihre Realität be¬ ſteht darin, daß Ich, der Leibhaftige, ſie habe. Man ſagt, in der Weltgeſchichte realiſire ſich die Idee der Freiheit. Umgekehrt, dieſe Idee iſt reel, ſowie ein Menſch ſie denkt, und ſie iſt in dem Maaße reel als ſie Idee iſt, d.h. als Ich ſie denke oder habe. Nicht die Idee der Freiheit entwickelt ſich, ſondern die Menſchen entwickeln ſich und ent¬ wickeln in dieſer Selbſtentwicklung natürlich auch ihr Denken. Kurz der Kritiker iſt noch nicht Eigner, weil er mit den Ideen noch als mit mächtigen Fremden kämpft, wie der Chriſt nicht Eigner ſeiner „ſchlechten Begierden“ iſt, ſo lange er ſie zu bekämpfen hat: wer gegen das Laſter ſtreitet, für den exiſtirt das Laſter. Die Kritik bleibt in der „Freiheit des Erkennens“, der Geiſtesfreiheit, ſtecken, und der Geiſt gewinnt ſeine rechte Frei¬ heit dann, wenn er ſich mit der reinen, der wahren Idee er¬ füllt; das iſt die Denkfreiheit, die nicht ohne Gedanken ſein kann.

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Zitationshilfe: Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 477. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/485>, abgerufen am 23.11.2024.