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Storch, Heinrich Friedrich von: Gemählde von St. Petersburg. Bd. 2. Riga, 1794.

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Familienkreise gewähren. Zu diesen Nach-
theilen gesellt sich in St. Petersburg der Hang
zur Gesellschaft, das entgegengesetzte Extrem
jeder häuslichen Neigung. In einen unauf-
hörlichen Wirbel von Geschäften, Ergötzlichkei-
ten und Gesellschaften verwickelt, giebt es nur
wenige Monate, in denen der Gatte seiner
Gattinn, der Vater seinen Kindern angehört.
Selbst in Ehen, wo wechselseitige Liebe das
Band knüpfte, werden Mann und Frau ein-
ander nicht selten um so fremder, je länger
sie mit einander leben; wieviel mehr in sol-
chen, wo Konvenienz oder Zwang zwey un-
harmonisch gestimmte Wesen in das engste
Verhältniß brachte. Wenn der Zwang hier
weniger Ehen stiftet, so ist die Konvenienz eine
desto glücklichere Kupplerinn. Unsere Mäd-
chen, schon in der Kindheit an erkünstelte Be-
dürfnisse, an Wohlleben und Luxus gewöhnt,
und unbekannt mit den stillen Tugenden und
dem stillen Glück eines einfachen häuslichen
Lebens, sehnen sich natürlich nach einer Ver-
sorgung die ihnen die Befriedigung ihrer
Wünsche verspricht. Der reiche Mann ist
daher in ihren Augen gewöhnlich der lie-

Familienkreiſe gewaͤhren. Zu dieſen Nach-
theilen geſellt ſich in St. Petersburg der Hang
zur Geſellſchaft, das entgegengeſetzte Extrem
jeder haͤuslichen Neigung. In einen unauf-
hoͤrlichen Wirbel von Geſchaͤften, Ergoͤtzlichkei-
ten und Geſellſchaften verwickelt, giebt es nur
wenige Monate, in denen der Gatte ſeiner
Gattinn, der Vater ſeinen Kindern angehoͤrt.
Selbſt in Ehen, wo wechſelſeitige Liebe das
Band knuͤpfte, werden Mann und Frau ein-
ander nicht ſelten um ſo fremder, je laͤnger
ſie mit einander leben; wieviel mehr in ſol-
chen, wo Konvenienz oder Zwang zwey un-
harmoniſch geſtimmte Weſen in das engſte
Verhaͤltniß brachte. Wenn der Zwang hier
weniger Ehen ſtiftet, ſo iſt die Konvenienz eine
deſto gluͤcklichere Kupplerinn. Unſere Maͤd-
chen, ſchon in der Kindheit an erkuͤnſtelte Be-
duͤrfniſſe, an Wohlleben und Luxus gewoͤhnt,
und unbekannt mit den ſtillen Tugenden und
dem ſtillen Gluͤck eines einfachen haͤuslichen
Lebens, ſehnen ſich natuͤrlich nach einer Ver-
ſorgung die ihnen die Befriedigung ihrer
Wuͤnſche verſpricht. Der reiche Mann iſt
daher in ihren Augen gewoͤhnlich der lie-

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[459/0477] Familienkreiſe gewaͤhren. Zu dieſen Nach- theilen geſellt ſich in St. Petersburg der Hang zur Geſellſchaft, das entgegengeſetzte Extrem jeder haͤuslichen Neigung. In einen unauf- hoͤrlichen Wirbel von Geſchaͤften, Ergoͤtzlichkei- ten und Geſellſchaften verwickelt, giebt es nur wenige Monate, in denen der Gatte ſeiner Gattinn, der Vater ſeinen Kindern angehoͤrt. Selbſt in Ehen, wo wechſelſeitige Liebe das Band knuͤpfte, werden Mann und Frau ein- ander nicht ſelten um ſo fremder, je laͤnger ſie mit einander leben; wieviel mehr in ſol- chen, wo Konvenienz oder Zwang zwey un- harmoniſch geſtimmte Weſen in das engſte Verhaͤltniß brachte. Wenn der Zwang hier weniger Ehen ſtiftet, ſo iſt die Konvenienz eine deſto gluͤcklichere Kupplerinn. Unſere Maͤd- chen, ſchon in der Kindheit an erkuͤnſtelte Be- duͤrfniſſe, an Wohlleben und Luxus gewoͤhnt, und unbekannt mit den ſtillen Tugenden und dem ſtillen Gluͤck eines einfachen haͤuslichen Lebens, ſehnen ſich natuͤrlich nach einer Ver- ſorgung die ihnen die Befriedigung ihrer Wuͤnſche verſpricht. Der reiche Mann iſt daher in ihren Augen gewoͤhnlich der lie-

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Zitationshilfe: Storch, Heinrich Friedrich von: Gemählde von St. Petersburg. Bd. 2. Riga, 1794, S. 459. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/storch_petersburg02_1794/477>, abgerufen am 02.06.2024.