nungen und Vorurtheilen -- eine so allgemeine und ausgedehnte Herrschaft erlangt hat, daß es gewiß nicht leicht einen Fleck auf der Erde giebt, wo sich's, in dieser Rücksicht, angeneh- mer und ruhiger leben läßt, als in St. Pe- tersburg. Man sieht wol, daß ich hier dem Worte: Duldung, nicht jene engbrüstige Deu- tung gebe, die es gewöhnlich zu haben pflegt, wenn von einer erzwungenen und befohlnen Religionsverträglichkeit, oder von einer durch Gesetze bestimmten Existenz der schwächern Par- they die Rede ist. Der Begriff, den wir hier mit diesem Worte verbinden, schließt eine frey- willige, in die Denk- und Handlungsweise übergegangene Schonung ein, die sich überall und gegen Jeden äußert, der anders denkt und anders handelt. Er begreift also nicht nur die religiöse, sondern auch die politische und gesellschaftliche Toleranz, in so weit sie -- nicht als Karakter des Regierungssystems -- sondern als Karakter des Publikums merkwür- dig wird.
Daß die religiöse Duldung bey der Nation selbst herrschend ist, beweis't sich schon daraus, daß die großen und ausgedehnten
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nungen und Vorurtheilen — eine ſo allgemeine und ausgedehnte Herrſchaft erlangt hat, daß es gewiß nicht leicht einen Fleck auf der Erde giebt, wo ſich’s, in dieſer Ruͤckſicht, angeneh- mer und ruhiger leben laͤßt, als in St. Pe- tersburg. Man ſieht wol, daß ich hier dem Worte: Duldung, nicht jene engbruͤſtige Deu- tung gebe, die es gewoͤhnlich zu haben pflegt, wenn von einer erzwungenen und befohlnen Religionsvertraͤglichkeit, oder von einer durch Geſetze beſtimmten Exiſtenz der ſchwaͤchern Par- they die Rede iſt. Der Begriff, den wir hier mit dieſem Worte verbinden, ſchließt eine frey- willige, in die Denk- und Handlungsweiſe uͤbergegangene Schonung ein, die ſich uͤberall und gegen Jeden aͤußert, der anders denkt und anders handelt. Er begreift alſo nicht nur die religioͤſe, ſondern auch die politiſche und geſellſchaftliche Toleranz, in ſo weit ſie — nicht als Karakter des Regierungsſyſtems — ſondern als Karakter des Publikums merkwuͤr- dig wird.
Daß die religioͤſe Duldung bey der Nation ſelbſt herrſchend iſt, beweiſ’t ſich ſchon daraus, daß die großen und ausgedehnten
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nungen und Vorurtheilen — eine ſo allgemeine
und ausgedehnte Herrſchaft erlangt hat, daß
es gewiß nicht leicht einen Fleck auf der Erde
giebt, wo ſich’s, in dieſer Ruͤckſicht, angeneh-
mer und ruhiger leben laͤßt, als in St. Pe-
tersburg. Man ſieht wol, daß ich hier dem
Worte: Duldung, nicht jene engbruͤſtige Deu-
tung gebe, die es gewoͤhnlich zu haben pflegt,
wenn von einer erzwungenen und befohlnen
Religionsvertraͤglichkeit, oder von einer durch
Geſetze beſtimmten Exiſtenz der ſchwaͤchern Par-
they die Rede iſt. Der Begriff, den wir hier
mit dieſem Worte verbinden, ſchließt eine frey-
willige, in die Denk- und Handlungsweiſe
uͤbergegangene Schonung ein, die ſich uͤberall
und gegen Jeden aͤußert, der anders denkt
und anders handelt. Er begreift alſo nicht nur
die religioͤſe, ſondern auch die politiſche und
geſellſchaftliche Toleranz, in ſo weit ſie —
nicht als Karakter des Regierungsſyſtems —
ſondern als Karakter des Publikums merkwuͤr-
dig wird.
Daß die religioͤſe Duldung bey der
Nation ſelbſt herrſchend iſt, beweiſ’t ſich ſchon
daraus, daß die großen und ausgedehnten
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Storch, Heinrich Friedrich von: Gemählde von St. Petersburg. Bd. 2. Riga, 1794, S. 505. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/storch_petersburg02_1794/523>, abgerufen am 25.11.2024.
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