Storm, Theodor: Ein Doppelgänger. Novelle. Berlin, 1887.Sie warf sich plötzlich gewaltsam herum. "Küß mich, John!" rief sie laut und wie in Todesangst; doch als er seine Lippen auf die ihren drückte, küßte er nur noch eine Todte. Scheu schlich das Kind zu ihm heran. "Ist Mutter todt?" frug es nach einer Weile, und als der Vater nickte: "Warum weinest Du denn nicht?" Da ergriff er das erschrockene Kind mit beiden Händen und drückte es an sich. "Ich kann nicht!" stammelte er heiser; "ich habe sie - - ermordet" wollte er sagen, aber es wurde an die Thür geklopft. Er wandte den Kopf und sah den Nachbar Tischler eintreten. Der alte Mann hatte durch die dünnen Wände den Lärm gehört, das Mitleid mit der Frau, die dessen nicht mehr bedurfte, hatte ihn hergetrieben; nun sah er erschrocken auf die Todte. "Was ist das! Was habt Ihr hier?" frug er verwirrt. John richtete sich auf und setzte die Kleine auf den Fußboden. "Es ist nur wieder ein Sarg Sie warf sich plötzlich gewaltsam herum. „Küß mich, John!“ rief sie laut und wie in Todesangst; doch als er seine Lippen auf die ihren drückte, küßte er nur noch eine Todte. Scheu schlich das Kind zu ihm heran. „Ist Mutter todt?“ frug es nach einer Weile, und als der Vater nickte: „Warum weinest Du denn nicht?“ Da ergriff er das erschrockene Kind mit beiden Händen und drückte es an sich. „Ich kann nicht!“ stammelte er heiser; „ich habe sie – – ermordet“ wollte er sagen, aber es wurde an die Thür geklopft. Er wandte den Kopf und sah den Nachbar Tischler eintreten. Der alte Mann hatte durch die dünnen Wände den Lärm gehört, das Mitleid mit der Frau, die dessen nicht mehr bedurfte, hatte ihn hergetrieben; nun sah er erschrocken auf die Todte. „Was ist das! Was habt Ihr hier?“ frug er verwirrt. John richtete sich auf und setzte die Kleine auf den Fußboden. „Es ist nur wieder ein Sarg <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0076" n="76"/> <p>Sie warf sich plötzlich gewaltsam herum. „Küß mich, John!“ rief sie laut und wie in Todesangst; doch als er seine Lippen auf die ihren drückte, küßte er nur noch eine Todte.</p> <p>Scheu schlich das Kind zu ihm heran. „Ist Mutter todt?“ frug es nach einer Weile, und als der Vater nickte: „Warum weinest Du denn nicht?“</p> <p>Da ergriff er das erschrockene Kind mit beiden Händen und drückte es an sich. „Ich kann nicht!“ stammelte er heiser; „ich habe sie – – ermordet“ wollte er sagen, aber es wurde an die Thür geklopft.</p> <p>Er wandte den Kopf und sah den Nachbar Tischler eintreten. Der alte Mann hatte durch die dünnen Wände den Lärm gehört, das Mitleid mit der Frau, die dessen nicht mehr bedurfte, hatte ihn hergetrieben; nun sah er erschrocken auf die Todte.</p> <p>„Was ist das! Was habt Ihr hier?“ frug er verwirrt.</p> <p>John richtete sich auf und setzte die Kleine auf den Fußboden. „Es ist nur wieder ein Sarg </p> </div> </body> </text> </TEI> [76/0076]
Sie warf sich plötzlich gewaltsam herum. „Küß mich, John!“ rief sie laut und wie in Todesangst; doch als er seine Lippen auf die ihren drückte, küßte er nur noch eine Todte.
Scheu schlich das Kind zu ihm heran. „Ist Mutter todt?“ frug es nach einer Weile, und als der Vater nickte: „Warum weinest Du denn nicht?“
Da ergriff er das erschrockene Kind mit beiden Händen und drückte es an sich. „Ich kann nicht!“ stammelte er heiser; „ich habe sie – – ermordet“ wollte er sagen, aber es wurde an die Thür geklopft.
Er wandte den Kopf und sah den Nachbar Tischler eintreten. Der alte Mann hatte durch die dünnen Wände den Lärm gehört, das Mitleid mit der Frau, die dessen nicht mehr bedurfte, hatte ihn hergetrieben; nun sah er erschrocken auf die Todte.
„Was ist das! Was habt Ihr hier?“ frug er verwirrt.
John richtete sich auf und setzte die Kleine auf den Fußboden. „Es ist nur wieder ein Sarg
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax.
(2012-11-15T13:54:31Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Wikimedia Commons: Bereitstellung der Bilddigitalisate
(2012-11-15T13:54:31Z)
Frank Wiegand: Konvertierung von Wikisource-Markup nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat.
(2012-11-15T13:54:31Z)
Weitere Informationen:Anmerkungen zur Transkription:
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |