Storm, Theodor: John Riew', Ein Fest auf Haderslevhuus. Zwei Novellen. Berlin, 1885.Dann pochte sie leise an die Thür: "Darf ich ein wenig bei Dir sitzen, Ohm? Es ist so einsam unten." Und ich rückte ihr einen Stuhl zum Tisch; ich selber las die Zeitung oder schrieb, wenn so was vorlag. Gesprochen wurde nicht viel; von dem, der ihre Jugend gebrochen hatte, hat sie nie ein Wort geredet; dagegen waren ihre Gedanken oft bei einem Todten. So sagte sie einmal und hielt ihre Nadel müßig in der Hand. "Ohm, ich war doch schon sechs Jahre, als mein Vater starb; aber, wenn ich an ihn denken will, ich kann mir sein Gesicht nicht mehr vorstellen - das ist doch wohl keine Sünde?" "Nein, Kind," erwiderte ich, "warum sollte das eine Sünde sein?" "Ja, er hat mich doch so lieb gehabt; das fühl' ich wohl noch immer; aber sein Gesicht, das kann ich nicht mehr sehen!" Es that mir weh, Nachbar, als das arme Kind so sprach, ich weiß nicht mehr weshalb; ihr Vater konnte auch sein schmuckes Gesicht nicht mehr gehabt haben, als er verunglückte. Da fiel mir ein, ich bewahrte ja noch ein paar Briefschaften von ihm ans seiner besten Zeit aus Rio einen, den anderen aus Hongkong, die waren so hell und jung geschrieben, Dann pochte sie leise an die Thür: „Darf ich ein wenig bei Dir sitzen, Ohm? Es ist so einsam unten.“ Und ich rückte ihr einen Stuhl zum Tisch; ich selber las die Zeitung oder schrieb, wenn so was vorlag. Gesprochen wurde nicht viel; von dem, der ihre Jugend gebrochen hatte, hat sie nie ein Wort geredet; dagegen waren ihre Gedanken oft bei einem Todten. So sagte sie einmal und hielt ihre Nadel müßig in der Hand. „Ohm, ich war doch schon sechs Jahre, als mein Vater starb; aber, wenn ich an ihn denken will, ich kann mir sein Gesicht nicht mehr vorstellen – das ist doch wohl keine Sünde?“ „Nein, Kind,“ erwiderte ich, „warum sollte das eine Sünde sein?“ „Ja, er hat mich doch so lieb gehabt; das fühl’ ich wohl noch immer; aber sein Gesicht, das kann ich nicht mehr sehen!“ Es that mir weh, Nachbar, als das arme Kind so sprach, ich weiß nicht mehr weshalb; ihr Vater konnte auch sein schmuckes Gesicht nicht mehr gehabt haben, als er verunglückte. Da fiel mir ein, ich bewahrte ja noch ein paar Briefschaften von ihm ans seiner besten Zeit aus Rio einen, den anderen aus Hongkong, die waren so hell und jung geschrieben, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0079" n="75"/> Dann pochte sie leise an die Thür: „Darf ich ein wenig bei Dir sitzen, Ohm? Es ist so einsam unten.“</p> <p>Und ich rückte ihr einen Stuhl zum Tisch; ich selber las die Zeitung oder schrieb, wenn so was vorlag. Gesprochen wurde nicht viel; von dem, der ihre Jugend gebrochen hatte, hat sie nie ein Wort geredet; dagegen waren ihre Gedanken oft bei einem Todten. So sagte sie einmal und hielt ihre Nadel müßig in der Hand. „Ohm, ich war doch schon sechs Jahre, als mein Vater starb; aber, wenn ich an ihn denken will, ich kann mir sein Gesicht nicht mehr vorstellen – das ist doch wohl keine Sünde?“</p> <p>„Nein, Kind,“ erwiderte ich, „warum sollte das eine Sünde sein?“</p> <p>„Ja, er hat mich doch so lieb gehabt; das fühl’ ich wohl noch immer; aber sein Gesicht, das kann ich nicht mehr sehen!“</p> <p>Es that mir weh, Nachbar, als das arme Kind so sprach, ich weiß nicht mehr weshalb; ihr Vater konnte auch sein schmuckes Gesicht nicht mehr gehabt haben, als er verunglückte. Da fiel mir ein, ich bewahrte ja noch ein paar Briefschaften von ihm ans seiner besten Zeit aus Rio einen, den anderen aus Hongkong, die waren so hell und jung geschrieben, </p> </div> </body> </text> </TEI> [75/0079]
Dann pochte sie leise an die Thür: „Darf ich ein wenig bei Dir sitzen, Ohm? Es ist so einsam unten.“
Und ich rückte ihr einen Stuhl zum Tisch; ich selber las die Zeitung oder schrieb, wenn so was vorlag. Gesprochen wurde nicht viel; von dem, der ihre Jugend gebrochen hatte, hat sie nie ein Wort geredet; dagegen waren ihre Gedanken oft bei einem Todten. So sagte sie einmal und hielt ihre Nadel müßig in der Hand. „Ohm, ich war doch schon sechs Jahre, als mein Vater starb; aber, wenn ich an ihn denken will, ich kann mir sein Gesicht nicht mehr vorstellen – das ist doch wohl keine Sünde?“
„Nein, Kind,“ erwiderte ich, „warum sollte das eine Sünde sein?“
„Ja, er hat mich doch so lieb gehabt; das fühl’ ich wohl noch immer; aber sein Gesicht, das kann ich nicht mehr sehen!“
Es that mir weh, Nachbar, als das arme Kind so sprach, ich weiß nicht mehr weshalb; ihr Vater konnte auch sein schmuckes Gesicht nicht mehr gehabt haben, als er verunglückte. Da fiel mir ein, ich bewahrte ja noch ein paar Briefschaften von ihm ans seiner besten Zeit aus Rio einen, den anderen aus Hongkong, die waren so hell und jung geschrieben,
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/storm_riew_1885 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/storm_riew_1885/79 |
Zitationshilfe: | Storm, Theodor: John Riew', Ein Fest auf Haderslevhuus. Zwei Novellen. Berlin, 1885, S. 75. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/storm_riew_1885/79>, abgerufen am 29.07.2024. |