unruhig gewordenen Joseph nachträglich zu beruhigen: nach Lukas, durch die Vorherverkündigung jedem mögli- chen Anstoss zuvorzukommen.
Fragt es sich nun: erzählen die beiden Evangelisten eigentlich Ein und Dasselbe, nur sehr abweichend, oder erzählen sie Verschiedenes, so dass ihre Erzählungen in einander eingeschoben und durch einander ergänzt werden können? so sind die Abweichungen beider Berichte so gross und wesentlich, dass das Erstere nicht wohl ange- nommen werden kann, ohne der historischen Geltung der- selben zu nahe zu treten, wesswegen die Mehrzahl der Theologen, alle nämlich, die hier eine wirkliche, sei es wunderhafte oder natürliche, Geschichte sehen, sich für das Letztere entschieden haben. Indem sie demgemäss be- haupten, das Stillschweigen eines Evangelisten über eine Begebenheit, welche der andre erzähle, sei kein Leugnen derselben 1), fügen sie die beiden Berichte folgendermassen in einander ein: 1) zuerst verkündigt der Engel der Ma- ria ihre bevorstehende Schwangerschaft (Lukas); 2) dann reist sie zu Elisabet (ebenders.); 3) nach ihrer Rückkehr nimmt Joseph an der entdeckten Schwangerschaft Anstoss (Matthäus); worauf 4) auch ihm eine Engelerscheinung zu Theil wird (ders.) 2).
Allein diese Stellung der Begebenheiten hat, wie auch schon von Schleiermacher bemerkt worden ist 3), viel Be- denkliches, und es scheint, was der eine Evangelist er- zählt, das vom andern Berichtete nicht nur nicht voraus- zusetzen, sondern sogar auszuschliessen. Denn fürs Erste ist das Benehmen des dem Joseph erscheinenden Engels schwer erklärlich, wenn er oder ein anderer schon frü-
1) Vgl. Augustin. de consens. evangelist. 2, 5.
2) So Paulus, exeget. Handb. 1, a. S. 145 ff. Olshausen, Comm. 1, 146 ff. Fritzsche, Comm. in Matth. p. 56.
3) Über die Schriften des Lukas, S. 42 f.
Drittes Kapitel. §. 20.
unruhig gewordenen Joseph nachträglich zu beruhigen: nach Lukas, durch die Vorherverkündigung jedem mögli- chen Anstoſs zuvorzukommen.
Fragt es sich nun: erzählen die beiden Evangelisten eigentlich Ein und Dasselbe, nur sehr abweichend, oder erzählen sie Verschiedenes, so daſs ihre Erzählungen in einander eingeschoben und durch einander ergänzt werden können? so sind die Abweichungen beider Berichte so groſs und wesentlich, daſs das Erstere nicht wohl ange- nommen werden kann, ohne der historischen Geltung der- selben zu nahe zu treten, weſswegen die Mehrzahl der Theologen, alle nämlich, die hier eine wirkliche, sei es wunderhafte oder natürliche, Geschichte sehen, sich für das Letztere entschieden haben. Indem sie demgemäſs be- haupten, das Stillschweigen eines Evangelisten über eine Begebenheit, welche der andre erzähle, sei kein Leugnen derselben 1), fügen sie die beiden Berichte folgendermaſsen in einander ein: 1) zuerst verkündigt der Engel der Ma- ria ihre bevorstehende Schwangerschaft (Lukas); 2) dann reist sie zu Elisabet (ebenders.); 3) nach ihrer Rückkehr nimmt Joseph an der entdeckten Schwangerschaft Anstoſs (Matthäus); worauf 4) auch ihm eine Engelerscheinung zu Theil wird (ders.) 2).
Allein diese Stellung der Begebenheiten hat, wie auch schon von Schleiermacher bemerkt worden ist 3), viel Be- denkliches, und es scheint, was der eine Evangelist er- zählt, das vom andern Berichtete nicht nur nicht voraus- zusetzen, sondern sogar auszuschlieſsen. Denn fürs Erste ist das Benehmen des dem Joseph erscheinenden Engels schwer erklärlich, wenn er oder ein anderer schon frü-
1) Vgl. Augustin. de consens. evangelist. 2, 5.
2) So Paulus, exeget. Handb. 1, a. S. 145 ff. Olshausen, Comm. 1, 146 ff. Fritzsche, Comm. in Matth. p. 56.
3) Über die Schriften des Lukas, S. 42 f.
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Drittes Kapitel. §. 20.
unruhig gewordenen Joseph nachträglich zu beruhigen:
nach Lukas, durch die Vorherverkündigung jedem mögli-
chen Anstoſs zuvorzukommen.
Fragt es sich nun: erzählen die beiden Evangelisten
eigentlich Ein und Dasselbe, nur sehr abweichend, oder
erzählen sie Verschiedenes, so daſs ihre Erzählungen in
einander eingeschoben und durch einander ergänzt werden
können? so sind die Abweichungen beider Berichte so
groſs und wesentlich, daſs das Erstere nicht wohl ange-
nommen werden kann, ohne der historischen Geltung der-
selben zu nahe zu treten, weſswegen die Mehrzahl der
Theologen, alle nämlich, die hier eine wirkliche, sei es
wunderhafte oder natürliche, Geschichte sehen, sich für
das Letztere entschieden haben. Indem sie demgemäſs be-
haupten, das Stillschweigen eines Evangelisten über eine
Begebenheit, welche der andre erzähle, sei kein Leugnen
derselben 1), fügen sie die beiden Berichte folgendermaſsen
in einander ein: 1) zuerst verkündigt der Engel der Ma-
ria ihre bevorstehende Schwangerschaft (Lukas); 2) dann
reist sie zu Elisabet (ebenders.); 3) nach ihrer Rückkehr
nimmt Joseph an der entdeckten Schwangerschaft Anstoſs
(Matthäus); worauf 4) auch ihm eine Engelerscheinung
zu Theil wird (ders.) 2).
Allein diese Stellung der Begebenheiten hat, wie auch
schon von Schleiermacher bemerkt worden ist 3), viel Be-
denkliches, und es scheint, was der eine Evangelist er-
zählt, das vom andern Berichtete nicht nur nicht voraus-
zusetzen, sondern sogar auszuschlieſsen. Denn fürs Erste
ist das Benehmen des dem Joseph erscheinenden Engels
schwer erklärlich, wenn er oder ein anderer schon frü-
1) Vgl. Augustin. de consens. evangelist. 2, 5.
2) So Paulus, exeget. Handb. 1, a. S. 145 ff. Olshausen, Comm.
1, 146 ff. Fritzsche, Comm. in Matth. p. 56.
3) Über die Schriften des Lukas, S. 42 f.
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 135. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/159>, abgerufen am 16.02.2025.
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